Wanderungen durch die Mark Brandenburg
ein Inventarium auf, nach
Pfeiler- und Fensterzahl beschrieben werden sollen,
müssen zugleich ein Landschafts- oder auch ein Genrebild sein. In einem oder im andern, am besten in der Zusammenwirkung beider wurzelt ihre Poesie.
Chorin aber hat wenig oder nichts von dem allen; es
gibt sich fast ausschließlich als Architekturbild. Alles fehlt, selbst das eigentlich Ruinenhafte der Erscheinung, so daß, von gewisser Entfernung her gesehen,
das Ganze nicht anders wirkt wie jede andere goti-
sche Kirche, die sich auf irgendeinem Marktplatz ir-
1724
gendeiner mittelalterlichen Stadt erhebt. Nur fehlt
leider der Marktplatz und die Stadt. Und treten wir
nun in die öden und doch wiederum nicht malerisch
zerfallenen Innenräume ein, so fehlt uns eines mehr
als alles andere. Wer immer auch unser Führer sein
mag, und wäre er der beste, wir vermissen die stille
Führerschaft von Sage und Geschichte. Alles läßt uns
im Stich, und wir schreiten auf dem harten Schutt-
boden hin wie auf einer Tenne, über die der Wind
fegte. Alles leer.
Kloster Chorin ist keine jener lieblichen Ruinen, darin sich's träumt wie auf einem Frühlingskirchhof, wenn
die Gräber in Blumen stehen; es gestattet kein Ver-
weilen in ihm, und es wirkt am besten, wenn es wie
ein Schattenbild flüchtig an uns vorüberzieht. Wer
hier in der Dämmerstunde des Weges kommt und
plötzlich zwischen den Pappeln hindurch diesen still
einsamen Prachtbau halb märchenhaft, halb ge-
spenstisch auftauchen sieht, dem ist das Beste zuteil
geworden, das diese Trümmer, die kaum Trümmer
sind, ihm bieten können. Die Poesie dieser Stätte ist
dann wie ein Traum, wie ein romantisches Bild an
ihm vorübergezogen, und die sang- und klanglose
Öde des Innern hat nicht Zeit gehabt, den Zauber
wieder zu zerstören, den die flüchtige Begegnung
schuf.
1725
Spandau und Umgebung
Sankt Nikolai zu Spandau
Wie Spukgestalten die Nebel sich drehn,
's ist schaurig, über das Moor zu gehn,
Die Ranke häkelt am Strauche.
Annette Droste-Hülshoff
Ein klarer Dezembertag; die Erde gefroren, die Dä-
cher bereift. Aber schon mischt sich ein leises Grau
in die heitere Himmelsbläue, es weht leise herüber
von Westen her, und jenes Frösteln läuft über uns
hin, das uns ankündigt: Schnee in der Luft.
Schnee in der Luft; vielleicht morgen schon, daß er
in Flocken niederfällt! So seien denn die Stunden
genutzt, die noch einen freien Blick in die Landschaft
gestatten.
Das Spreetal hinunter, an dem Charlottenburger
Schloß vorbei (dessen vergoldete Kuppelfiguren nicht
recht wissen, ob sie in dem spärlichen Tageslicht
noch blitzen sollen oder nicht), über Brücken hin,
zwischen Schwanenrudeln hindurch, geht der Zug,
bis die Havelveste vor uns aufsteigt, mit Brücken
und Gräben, mit Torwarten und Mauern, und über
dem allen: Sankt Nikolai, die erinnerungsreiche Kir-
che dieser Stadt.
1726
Der Zug hält. Ohne Aufenthalt, mit den Minuten gei-
zend, steuern wir durch ein Gewirr immer enger
werdender Gassen auf den alten gotischen Bau zu,
der sich, auf engem und kahlem Platze, über den
Dächerkleinkram hinweg, in die stahlfarbene Luft
erhebt. Kein Bau ersten Ranges, aber doch an dieser Stelle.
Das Innere, ein seltner Fall bei renovierten Kirchen,
bietet mehr, als das Äußere verspricht. Emporen, wie
Brückenbogen geschwungen, ziehen sich zwischen
den grauweißen Pfeilern hin und wirken hier, in dem
sonst schmucklosen Gange, fast wie ein Ornament
des Mittelschiffes.
Die Kirche selbst, bei aller Schönheit, ist kahl; im
Chor aber drängen sich die Erinnerungsstücke, die
der Kirche noch aus alter Zeit her geblieben sind.
Hier, an der Rundung des Gemäuers hin, hängen die
Wappenschilde der Quaste, Ribbeck und Nostitz, hier
richtet sich das prächtige Denkmal der Gebrüder Rö-
bel auf, hier begegnen wir dem berühmten Steinal-
tar, den Rochus von Lynar der Kirche stiftete, und
hier endlich, in Front ebendieses Altars, erhebt sich
das dreifußartige, schönste Kunstform zeigende
Taufbecken, das zugleich die Stelle angibt, wo unter
dem Estrich die Überreste Adam Schwarzenbergs
ruhn. Zur Rechten die eigene Wappentafel des Gra-
fen: der Rabe mit dem Türkenkopf.
Alle diese Dinge indes sind es nicht, die uns heute
nach Sankt Nikolai in Spandau geführt haben, unser
Besuch gilt vielmehr dem alten Turme, zu dessen
1727
Höhe ein Dutzend Treppenstiegen hinanführen. Viele
dieser Stiegen liegen im Dunkel, andre
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