Wanderungen durch die Mark Brandenburg
eben am Hause vorüber, auf die Havelbrücke
zu und in die Vorstadt hinein; hinter den Musikanten
allerlei Volk. Was ist es? »Das Theater fängt an; die
Stadtkapelle macht sich auf den Weg, um mit dabei-
1812
zusein.« Und wir lesen jetzt erst den Theaterzettel,
der, in gleicher Höhe mit uns, an einen der Baum-
stämme geklebt ist. »Das Testament des Großen
Kurfürsten, Schauspiel in fünf Aufzügen.« Wir lieben
das Stück, aber wir kennen es, und während die
Sonne hinter Schloß und Park versinkt, ziehen wir es
vor, in Bilder und Träume gewiegt, auf »Schloß Ora-
nienburg« zu blicken, eine jener wirklichen Schaubühnen, auf der die Gestalten jenes Stücks mit ih-
rem Haß und ihrer Liebe heimisch waren.
Tegel
Die Hoffnung –
Sie wird mit dem Greis nicht begraben.
Havelabwärts von Oranienburg, schon in Nähe Span-
daus, liegt das Dorf Tegel, gleich bevorzugt durch
seine reizende Lage wie durch seine historischen
Erinnerungen. Jeder kennt es als das Besitztum der
Familie Humboldt. Das berühmte Brüderpaar, das
diesem Fleckchen märkischen Sandes auf Jahrhun-
derte hin eine Bedeutung leihen und es zur Pilger-
stätte für Tausende machen sollte, ruht dort gemein-
schaftlich zu Füßen einer granitenen Säule, von de-
ren Höhe die Gestalt der »Hoffnung« auf die Gräber
beider herniederblickt.
1813
Wer seinen Füßen einigermaßen vertrauen kann, tut
gut, Berlin als Ausgangspunkt genommen, die ganze
Tour zu Fuß zu machen. Die erste Hälfte führt durch
die volkreichste und vielleicht interessanteste der
Berliner Vorstädte, durch die sogenannte Oranien-
burger Vorstadt, die sich, weite Strecken Landes be-deckend, aus Bahnhöfen und Kasernen, aus Kirchhö-
fen und Eisengießereien zusammensetzt. Diese vier
heterogenen Elemente drücken dem ganzen Stadtteil
ihren Stempel auf; das Privathaus ist eigentlich nur
insoweit gelitten, als es jenen vier Machthabern
dient. Leichenzüge und Bataillone mit Sang und
Klang folgen sich in raschem Wechsel oder begegnen
einander; dazwischen gellt der Pfiff der Lokomotive,
und über den Schloten und Schornsteinen weht die
bekannte schwarze Fahne. Hier befinden sich, neben
der Königlichen Eisengießerei, die großen Etablisse-
ments von Egells und Borsig, und während dem Vo-
rübergehenden die endlose Menge der zugehörigen
Bauten imponiert, verweilt er mit Staunen und Freu-
de zugleich bei dem feinen Geschmack, bei dem Sinn
für das Schöne, der es nicht verschmäht hat, hier in
den Dienst des Nützlichen zu treten.
So zieht sich die Oranienburger Vorstadt bis zur Pan-
kenbrücke; jenseits derselben aber ändert sie Na-
men und Charakter. Der sogenannte »Wedding« be-
ginnt, und an die Stelle der Fülle, des Reichtums, des
Unternehmungsgeistes treten die Bilder jener prosai-
schen Dürftigkeit, wie sie dem märkischen Sande
ursprünglich eigen sind. Kunst, Wissenschaft, Bil-
dung haben in diesem armen Lande einen schwere-
ren Kampf gegen die widerstrebende Natur zu führen
1814
gehabt als vielleicht irgendwo anders, und in gestei-
gerter Dankbarkeit gedenkt man jener Reihenfolge
organisatorischer Fürsten, die seit anderthalb Jahr-
hunderten Land und Leute umgeschaffen, den Sumpf
und den Sand in ein Fruchtland verwandelt und die
Roheit und den Ungeschmack zu Sitte und Bildung
herangezogen haben. Aber die alten, ursprünglichen
Elemente leben noch überall, grenzen noch an die
Neuzeit oder drängen sich in die Schöpfungen der-
selben ein, und wenige Punkte möchten sich hierlan-
des finden, die so völlig dazu geeignet wären, den
Unterschied zwischen dem Sonst und Jetzt, zwischen
dem Ursprünglichen und dem Gewordenen zu zei-
gen, als die Stadtteile diesseits und jenseits des
Panke-Flüßchens, das wir soeben überschritten ha-
ben.
Die Oranienburger Vorstadt in ihrer jetzigen Gestalt
ist das Kind einer neuen Zeit und eines neuen Geis-
tes; der »Wedding« aber, der nun vor und neben uns
liegt, ist noch im Einklang mit dem alten nationalen
Bedürfnis, mit den bescheideneren Anforderungen
einer früheren Epoche gebaut. Was auf fast eine hal-
be Meile hin diesen ganzen Stadtteil charakterisiert,
das ist die völlige Abwesenheit alles dessen, was
wohltut, was gefällt. In erschreckender Weise fehlt
der Sinn für das Malerische . Die Häuser sind meist in gutem Stand; nirgends die Zeichen schlechter Wirtschaft oder des Verfalls; die Dachziegel weisen keine
Lücke auf, und keine
Weitere Kostenlose Bücher