Wanderungen durch die Mark Brandenburg
alle Bekannte, Stich, Wilhelm, Wal-
ly und Anna. Es ist mir so schmerzlich, wenn ich Eure
Bilder in dem Medaillon betrachte!
Ich danke Euch für alles Gute und alle Liebe, die Ihr
mir bewiesen habt. Tröstet Euch, meine lieben El-
tern. Ich habe noch zwei Briefe von Mama; ich lese
sie oft; es gibt mir Trost. Nach dem Kriege werdet
Ihr das Medaillon erhalten. Ich weiß noch, lieber Pa-
pa, als Du es mir gabst, sagtest Du: ›es sollte mir
ein Talisman sein‹. Ich habe stets eine große An-
hänglichkeit daran gehabt. Mama soll es behalten.
Lebt wohl, lieber Papa und Mama, vergebt mir. Trös-
tet Euch. Seid gegrüßt von Eurem Sohn
Alexander Anderssen.«
Kurz vor seinem Tode schrieb er noch folgendes:
»Liebe Eltern! Das Urteil wird morgen, Sonnabend,
den 29., vollstreckt. Es ist jetzt die Nacht vom 28.
zum 29. Ich habe vor drei Stunden einen Brief an
Euch geschrieben; der Kommissar der Republik hat
ihn abgeholt. Ich danke Euch nochmals für Eure gro-
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ße Liebe zu mir. Herrn von S. habe ich gebeten, da-
für zu sorgen, daß Ihr meine Sachen bekommt. Den
kleinen Ring schenke ich Wally. Es ist der Stein aber
verloren.
Nachschrift: Es ist Sonnabend, 29. Oktober, morgens fünfeinhalb Uhr. Um sechseinhalb Uhr ist die Exekution. Ich sage Euch noch einmal, eine Stunde vor
meinem Tode, Lebewohl und bitte Euch, Euch bald
zu trösten. Lebt wohl.
Euer Sohn Alexander Anderssen.«
Ich muß hier den Gang der Erzählung einen Augen-
blick unterbrechen. Diese Schriftstücke, in ihrer
schlichten und tiefinnerlichen Abfassung, berühren
mich auch heute wieder, wo ich sie zum Druck gebe,
als wahre Musterstücke schönen Menschentums.
Gleich schön in ihrem Kampf wie in ihrem Sieg. In
dem ersten, längeren Brief noch ein Ringen, der
Schmerz des Sich-losreißen-Müssens; in dem zwei-
ten Brief und seiner Nachschrift die ganze Ruhe des-
sen, der überwunden hat. Von Heldenkomödie und
Feigheitswinselei gleich fern, gönnen uns diese Zei-
len einen Einblick in ein nobles und durch Todesbit-
terkeit geläutertes Herz.
Um sechseinhalb Uhr hielt der Wagen vor dem mai-
son d'arrêt. Anderssen war fertig. Eine Zigarette an-
zündend, ein paar andere zu sich steckend, stieg er
rasch in den Fiaker hinein. Angesichts des Todes hat-
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te er ganz jene elastische Nervosität, jene Beherr-
schungskraft wiedergewonnen, die ihn von Jugend
auf so sehr ausgezeichnet hatte. Die Aussagen des
Gefangenwärters, des Exekutionskommandos, end-
lich des Kommandanten selbst lassen darüber keinen
Zweifel. In dem Wallgraben angekommen, wo die
Exekution stattfinden sollte, lehnte er Niederknien
und Augenverbinden ab. Aufrecht stellte er sich vor
die Gewehrläufe. »Gut schießen«, wandt er sich an
die Mobilegarden-Sektion; »hierher«, und dabei legte
er die Hand auf die Brust. Dann warf er mit der Lin-
ken die Zigarette in die Luft und rief: »Es lebe der
König.« Von neun Kugeln durchbohrt, brach er zu-
sammen.
Oberst Turnier richtete noch am selben Tage folgen-
des Schreiben an den Kommandeur des
4. Ulanenregiments:
»Mein Herr Oberst! Ich habe die Ehre, Sie wissen zu
lassen, daß Fähnrich Anderssen vom
4. Ulanenregiment durch ein am 24. d. M. zusam-
mengetretenes Kriegsgericht, und zwar gestützt auf
Artikel 207 unsres Code militaire, zum Tode verur-
teilt worden ist. Mit ihm Mr. Bauer, der den Eintritt
des jungen Offiziers in diese unsre Festung Thionville
begünstigt hatte. Jede Vorschrift unsrer Militärge-
richtsbarkeit ist innegehalten und heute früh das
Urteil vollstreckt worden.
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Wie ich schon die Ehre hatte, in einem Schreiben
vom 21. d. M. Ihnen zu melden, ist Fähnrich Anders-
sen durch den Chefarzt unseres Militärhospitals so-
wohl im Gefängnis wie vor dem Kriegsgericht, dazu
auch in den von ihm geschriebenen Briefen auf das
aufmerksamste untersucht worden. Das Resultat
dieser Untersuchung hat ergeben, daß der junge
Offizier von dem Tag an, wo er seinen Fehltritt be-
ging, bis zu dem, wo er dafür büßte, bei völligster
und ruhigster Überlegung gewesen ist.
Fähnrich Anderssen hat im übrigen all die Zeit hin-
durch eine vorzügliche, ebenso passende wie würdi-
ge Haltung bewiesen und ist gestorben wie ein ech-
ter Soldat (il est mort en vrai soldat).
Ich bedaure, daß meine überaus schwierige Lage und
die Macht der Umstände mir nicht gestattet haben,
den Gang dieser furchtbaren Angelegenheit (de cette
terrible affaire)
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