Wanderungen durch die Mark Brandenburg
den
Salon tretende Oberkellner mit lauter Stimme an-
fragte: »Ein Zwei-Tage-Billet für Paris: Wer der Her-
ren...« – »Ich«, klang es von der entgegengesetzten
Seite der Tafel her, und eine Viertelstunde später (es
war höchste Zeit) saß unser Studiosus juris bereits
im Coupé und dampfte auf Paris zu. Wie er ging und
stand, hatte er die Reise angetreten. Auch ohne
Geld. Die paar Gulden, die er bei sich führte, waren
schon verausgabt, eh er noch in den Pariser Ost-
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bahnhof einfuhr. Er liebte es, alles vom Moment und
seinem guten Glück abhängen zu lassen. Und siehe
da, in Paris ließ es ihn nicht im Stich. Einer der ersten, denen er auf dem Boulevard des Italiens begeg-
nete, war ein Heidelberger Freund, Sohn eines rei-
chen Industriellen, der willfährig mit seiner Reisekas-
se aushalf, mutmaßlich auch seine Wohnung zur Ver-
fügung stellte. Die erborgte Geldsumme wurde ge-
wissenhaft geteilt und die eine Hälfte in Wäsche, Hut
und Handschuhen, die andere in Cabfahrten und
Soupers bei Véry und den Frères Provençaux ange-
legt. Ob er die Ausstellung besuchte, ist mindestens
zweifelhaft. Am zweiten Tage war er pünktlich am
Bahnhof, um die Rückreise anzutreten; plötzlich a-
ber, ganz nach Art eines kühnen Hasardeurs, von der
unbezwinglichen Neigung erfaßt, sein Glück noch
einmal zu versuchen, trat er an den Schalter, ließ
sein Billet abstempeln und blieb. Er mochte – und
nicht ganz mit Unrecht – davon ausgehen, daß nur
von seiten des Kassenmannes eine exakte Prüfung
des Billets zu gewärtigen, von dem im Momente der
Abfahrt aber die Contrôle fahrenden Schaffner nicht
allzuviel Böses zu befürchten sei. Auf diesen Kalkül
hin dehnte er seinen Pariser Aufenthalt um weitere
drei Tage, will sagen bis zur Erschöpfung der letzten
Ressourcen, aus, sah auch in bezug auf Conducteur-
Contrôle seine Berechnungen glänzend gerechtfertigt
und gelangte glücklich bis Straßburg. Hier erst, von
der französischen auf die deutsche Bahn überge-
hend, wurde die Sache bemerkt und die Weiterfahrt
verweigert. Aber so nah am Hafen wollt unser
Freund sein Schiff nicht scheitern lassen. Er verließ
den Perron, stellte sich auf die entgegengesetzte
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Seite der Wagenreihe, riß im Moment der Abfahrt
eine Coupétür auf und sprang hinein. So kam er
nach Karlsruhe, hungrig und keinen Kreuzer in der
Tasche. Gleichviel, bis hierher reichten die Heidel-
berger Beziehungen, und – terra firma war wieder
unter seinen Füßen.
Noch im selben Jahre, Herbst 1868, ging er, behufs
Absolvierung seines Militärjahres, in die Heimat zu-
rück. Er trat bei den Fürstenwalder Ulanen ein. Das
kavalleristische Leben, das Reiten und Pistolenschie-
ßen, das Straffe des Dienstes und daneben die ke-
cke, mit der Gefahr spielende Ungebundenheit der
freien Stunden, das alles entsprach so recht dem
Hange seiner Natur. Kein Wunder also, daß er am
Schluß seines Volontairjahres erklärte, das Rechts-
studium aufgeben und die Frische des Daseins weiter
genießen zu wollen. Er blieb Soldat, trat von den 3.
(Fürstenwalder) zu den 4. (Schneidemühler) Ulanen
über, machte seine Avantageurzeit durch und war
bei Ausbruch des Siebziger Krieges Fähnrich im
letztgenannten Regiment. Anfänglich bei der Ersatz-
schwadron verblieben, traf er erst am 15. September
in der Metzer Zernierungslinie ein, machte Anfang
Oktober eins der im Norden stattfindenden Gefechte
mit, zeichnete sich durch Bravour aus und sollte am
16. Oktober vor der Front belobt und zum Offizier
ernannt werden, als auf den Anruf des Regiments-
kommandeurs: »Fähnrich Anderssen!« die Antwort
gegeben werden mußte: »Fehlt seit gestern«. Jener
Schritt war geschehen, der nicht mehr zurück getan
werden konnte und mit dem Tode endete. Im übri-
gen sei dem noch zu Erzählenden voraufgeschickt,
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daß er auch hier wieder auf dem Punkte stand, der leichtsinnig heraufbeschworenen Gefahr, voll echten
Spielerglücks, zu entgehen. Eine Bagatelle entschied
schließlich zu seinen Ungunsten. Hören wir, wie.
Das Regiment lag mit einigen Eskadrons in Garsch,
zwischen Metz und Thionville. Hier befand sich auch
Anderssen, der in dem Hause des Maires ein gutes
Quartier gefunden hatte. Auch ein angenehmes,
denn er stand auf bestem Fuß mit dem Wirt und al-
len Insassen des Hauses, besonders mit den Kin-
dern, mit denen er, gütig und lebhaft, wie er war, zu
spielen und zu scherzen liebte. Am 15.
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