Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
ich in diesem Sinn gar keine Familie.
Ich habe viel beobachtet, viel herumgehorcht. Ich habe mir die gestrengen zeitgenössischen Prediger angehört, die versichern, daß diese Einsamkeit eine bürgerliche Krankheit sei. Sie verweisen auf die Gemeinschaft, die hehre Gemeinschaft, die den einzelnen einschließt und erhöht, und so hat das Leben unverhofft einen Sinn, weil man nicht für sich selbst, nicht einmal für die engere Familie lebt, sondern für ein übermenschliches Prinzip, für die Gemeinschaft. Diese Behauptung habe ich gründlich geprüft. Nicht theoretisch, sondern gleich dort, wo ich sie auf frischer Tat ertappte, im Leben selbst. Ich habe das Leben der sogenannten »Armen« untersucht – schließlich sind sie die größte Gemeinschaft –, und tatsächlich verschafft ihnen das Bewußtsein, zu ein und derselben Gemeinschaft zu gehören, etwa zur Gewerkschaft der Stahlarbeiter oder zur Pensionskasse der Privatangestellten, die ihre Abgeordneten im Parlament haben, ein intensiveres Lebensgefühl, denn es ist in der Tat erhebend zu wissen, daß es auf der Welt unzählige Stahlarbeiter und Privatangestellte gibt, die alle besser, menschenwürdiger leben möchten, und daß ihre Lage auf Erden, um den Preis bitterer Kämpfe und erregter Auseinandersetzungen, manchmal tatsächlich etwas besser wird … Sie verdienen nicht mehr nur hundertachtzig Pengő, sondern zweihundertzehn … Ja, nach unten gibt es keine Grenzen. Wenn man unten ist, freut man sich über alles, was die unbarmherzige Strenge mildert. Doch das glückliche, innige Lebensgefühl habe ich auch bei denen nicht gefunden, die berufshalber oder aus Berufung in den »großen Gemeinschaften« leben. Ich habe beleidigte, traurige, unbefriedigte, zeternde, zäh kämpfende, resignierte, stumpfsinnige, intelligent und schlau vorgehende Menschen gefunden. Menschen, die daran glaubten, daß sich ihr Los allmählich und aufgrund unberechenbarer Wendungen doch verbessern werde. So etwas ist gut zu wissen. Doch dieses Wissen löst die Einsamkeit des Lebens nicht auf. Es ist nicht wahr, daß nur der Bürger einsam ist. Ein Feldarbeiter von der Tiefebene kann ebenso einsam sein wie ein Zahnarzt in Antwerpen.
Dann habe ich viel gelesen, bis auch ich dachte, es liege an der Zivilisation.
Es ist, als wäre auf Erden die Freude abgekühlt. Zuweilen flackert sie da und dort für ein paar Augenblicke auf. In der Tiefe unserer Seele lebt die Erinnerung an eine heitere, sonnige, verspielte Welt, wo die Pflicht gleichzeitig Vergnügen ist, die Anstrengung angenehm und sinnvoll. Die Griechen, ja, vielleicht waren die Griechen glücklich … Zwar mordeten sie Freund und Feind, zwar führten sie unmäßig lange und schrecklich blutige Kriege, aber in ihnen lebte trotzdem ein heiter strömendes Gemeinschaftsgefühl, denn sie alle waren kultiviert, im tiefen, vorliterarischen Sinn des Wortes, alle, auch die Töpfer … Wir hingegen leben nicht in einer Kultur, sondern in einer unterschwelligen mechanischen Zivilisation. Jeder hat daran Anteil, und keiner kennt die echte Freude. Jeder kann, wenn er unbedingt will, in warmem Wasser baden, jeder kann Bilder anstarren, Musik hören, über Kontinente hinweg mit jemandem reden, und heutzutage schützt das Gesetz die Rechte und Interessen der Armen ebenso wie die der Reichen. Aber schau dir die Gesichter an! Wo immer du auf der Welt verkehrst, in größeren oder kleineren Gemeinschaften, wie aufgewühlt sind die Gesichter, wie mißtrauisch, was für eine Spannung, was für ein Mangel an Vertrauen, was für ein verkrampfter Widerstand in allen Zügen! Es ist die Anspannung, die von der Einsamkeit herrührt. Man kann sie erklären, und jede Erklärung hat Gültigkeit, und doch nennt keine den wirklichen Grund … Ich kenne Mütter mit sechs Kindern, in genau solcher Einsamkeit, mit dem entsprechenden verkrampften, feindseligen Gesichtsausdruck, und ich kenne bürgerliche Junggesellen, die schon ihre Handschuhe mit einer Überbesorgtheit ausziehen, als bestünde ihr Leben aus einer Reihe von Zwangshandlungen. Und je künstlicher die Gemeinschaften sind, die von Politikern und Propheten in die Welt gerufen werden, je zwangsmäßiger schon die Kinder zu einem Gemeinschaftsgefühl erzogen werden, um so unerbittlicher ist in den Seelen die Einsamkeit. Du glaubst das nicht? Ich weiß es. Und ich werde nicht müde, es zu sagen.
Hätte ich einen Beruf, der mir erlaubte, zu den Menschen zu reden, weißt du, wäre ich Priester oder
Weitere Kostenlose Bücher