Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
Tatsachen sind sicher, die Wirklichkeit … unsere Erklärung für die Tatsachen ist hingegen hoffnungslos literarisch. Weißt du, ich bin nicht länger ein großer Freund der Literatur. Eine Zeitlang habe ich viel gelesen, alles, was mir in die Hände kam. Ich fürchte, die schlechte Literatur lügt den Frauen und Männern den Kopf voll mit Pseudogefühlen. Die künstlichen Tragödien der Welt verdanken wir zu einem großen Teil den verlogenen Lehren, wie sie sich in fragwürdigen Büchern finden. Das Selbstmitleid, die sentimentalen Lügen, die künstlichen Verwicklungen sind weitgehend Folgen einer verzerrten, undurchdachten oder einfach dummen Literatur. In der Zeitung wird unter dem Strich der verlogene Roman abgedruckt, auf der zweiten Seite kannst du in den vermischten Nachrichten gleich von den Folgen des Romans lesen, von der Tragödie der Näherin, die Säure getrunken hat, weil der Tischler sie verlassen hat, oder vom Unglück der Frau Geheimrat, die Veronal geschluckt hat, weil der berühmte Schauspieler nicht zum Rendezvous erschienen ist. Was schaust du mich so erschrocken an? Du fragst, was ich mehr verachte? Die Literatur? Das tragische Mißverständnis, das man Liebe nennt? Oder einfach die Menschen? … Schwierige Frage. Ich verachte nichts und niemanden, dazu habe ich kein Recht. Doch für den Rest meines Lebens gebe auch ich mich einer Art Leidenschaft hin. Der Wahrheit. Ich ertrage es nicht mehr, angelogen zu werden, ob von der Literatur oder von den Frauen, und am wenigsten würde ich es ertragen, mich selbst zu belügen.
Du sagst jetzt, ich sei verletzt worden. Jemand habe mich verletzt. Vielleicht diese zweite Frau. Oder vielleicht die erste. Etwas sei schiefgegangen. Ich sei vereinsamt, nach großen seelischen Erschütterungen. Ich sei zornig und glaube nicht an die Frauen, an die Liebe, an die Menschen. Du denkst, ein Mensch wie ich sei lächerlich und bedauernswert. Du willst mich behutsam darauf aufmerksam machen, daß es zwischen den Menschen auch anderes gibt als Leidenschaft und Glück. Es gibt auch Liebe, Geduld, Anteilnahme und Vergebung. Du willst mir die Leviten lesen und sagen, daß ich zuwenig mutig war, zuwenig geduldig mit den Menschen, die meinen Weg kreuzten, und jetzt, da ich ein alter Eigenbrötler geworden bin, sei ich immer noch zuwenig mutig, um einzusehen, daß der Fehler auf meiner Seite war. Mein Lieber, solche Anklagen habe ich schon gehört und geprüft. Auf der Folterbank kann man nicht ehrlicher sein, als ich es mit mir selbst gewesen bin. Ich habe mir jedes Leben, das ich aus der Nähe betrachten konnte, sehr genau angeschaut, habe den Kopf durch das Fenster in fremde Leben hineingestreckt, war gar nicht prüde oder zurückhaltend, sondern ein aufmerksamer Forscher. Auch ich hatte gedacht, der Fehler liege bei mir. Ich erklärte es mir mit Gier, mit Egoismus, mit Genußsucht, mit den gesellschaftlichen Schranken, mit dem Lauf der Welt … was? Na eben, den Bankrott. Die Einsamkeit, in die früher oder später jedes Leben hineinfällt wie der nächtliche Wanderer in die Grube. Für die Männer gibt es keine Hilfe, weißt du das nicht? Wir sind Männer, wir müssen allein leben und über alles genau abrechnen, wir müssen schweigen und die Einsamkeit, unseren Charakter und das Gesetz des Lebens ertragen.
Und die Familie? Ich sehe, du willst das fragen. Ob ich nicht glaube, daß die Familie eine Art unpersönlichen, höheren Sinn des menschlichen Lebens darstelle, eine höhere Harmonie? Man lebe nicht, um glücklich zu sein. Man lebe, um seine Familie zu erhalten und anständige Menschen großzuziehen, und dafür solle man keinen Dank erwarten und auch nicht das Glück. Ich will die Frage ehrlich beantworten. Nämlich damit, daß du recht hast. Ich glaube nicht daran, daß die Familie »glücklich macht«. Nichts macht glücklich. Aber die Familie ist eine so große Aufgabe, vor der Welt und vor uns selbst, daß es sich um ihretwillen lohnt, die unverständlichen Sorgen des Lebens, die unnötigen Leiden zu ertragen. Ich glaube nicht an die »glückliche« Familie. Aber ich habe Formen des Zusammenlebens, menschliche Gemeinschaften gesehen, wo jeder auch ein wenig gegen die anderen lebte, jeder für sich, wo man aber im Ganzen, als Familie, dennoch zusammenhielt, auch wenn die einzelnen Mitglieder wie hungrige Wölfe übereinander herfielen. Familie … großes Wort. Ja, vielleicht ist die Familie das Ziel des Lebens.
Aber gelöst ist damit nichts. Übrigens hatte
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