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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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bürgerliche Klasse. Die Bewahrer. Wir haben eine wichtige Aufgabe, wir müssen das Prestige wahren, wir dürfen dem Aufruhr der Instinkte und der Plebejer nicht nachgeben, wir dürfen nicht zurückweichen und nicht für das persönliche Glück leben. Ob das eine bewußte Haltung gewesen sei, fragst du … Nun, ich sage nicht gerade, daß mein Vater oder meine Mutter jeweils am Sonntag eine Programmrede hielten, in der sie den Fünfzigjahresplan der Familie umrissen. Aber ich kann auch nicht sagen, daß wir einfach nur dem unzweideutigen Gebot der Situation und der Abstammung gehorchten. Wir wußten sehr wohl, daß uns das Leben für eine harte Aufgabe ausersehen hatte. Nicht nur das Haus und der schöne Lebensmodus und die Coupons und die Fabrik mußten gewahrt werden, sondern auch der Widerstand, der die tiefere Bedeutung und der höhere Befehl unseres Lebens war. Der Widerstand gegen die plebejischen Kräfte in der Welt, die unser Selbstgefühl verderben und uns fortwährend zu Freiheiten verlocken wollten. Der Widerstand, mit dem wir jegliche Neigung zum Aufbegehren nicht nur in der Welt, sondern in uns selbst unterdrücken mußten. Alles war verdächtig und gefährlich. Wir paßten auch in unseren vier Wänden auf das ungestörte Funktionieren der heiklen und grausamen Gesellschaftsmaschinerie auf, und zwar durch die Art und Weise, wie wir die Phänomene der Welt beurteilten, wie wir unsere Sehnsüchte abfertigten, unsere Triebe disziplinierten. Bürger zu sein ist eine fortwährende Anstrengung. Ich spreche jetzt von der schöpferischen, bewahrenden Art Bürger, nicht vom kleinbürgerlichen Streber, der einfach nur schöner und bequemer leben will. Wir wollten keineswegs bequemer und auch nicht luxuriöser leben. Am Grunde unserer Haltung, unserer Gewohnheiten war eine bewußte Selbstverleugnung. Wir fühlten uns ein bißchen wie Mönche, wie die Verschworenen eines heidnischen, weltlichen Ordens, der Geheimnisse und Regeln hütet in einer Zeit, da alles Sakrale gefährdet ist. Auf die Art aßen wir zu Mittag. Auf die Art gingen wir einmal wöchentlich ins Nationaltheater oder in die Oper. Auf die Art empfingen wir unsere Gäste, die anderen Bürger, die in dunkler Kleidung kamen, sich in den Salon oder ins Kerzenlicht des mit edlem Silber und Porzellan und erlesenen Gerichten angefüllten Speisezimmers setzten und etwas redeten, das steriler und überflüssiger nicht sein konnte. Doch diese sterilen Gespräche hatten noch einen tieferen Sinn. Als ob sie unter Barbaren lateinisch miteinander redeten. Jenseits der höflichen Sätze, der gleichgültigen, nichtssagenden Konversation, jenseits der Gemeinplätze und des gesellschaftlichen Geplauders bedeuteten diese Gespräche, daß sich die Bürger zum Ritual, zur edlen Verschwörung versammelt hatten und jetzt in Gleichnissen – denn sie nannten nie etwas beim Namen – erneut schworen und bekräftigten, daß sie den Aufrührerischen gegenüber das Geheimnis und die Übereinkunft hüten würden. So lebten wir. Auch einander gaben wir immer Rechenschaft. Mit zehn Jahren war ich schon so selbstbewußt und still, aufmerksam und diszipliniert wie der Präsident einer Großbank.
    Ich sehe, du staunst. Du hast diese Welt nicht gekannt. Du bist der Schöpfer, du beginnst in deiner Familie die Lektion neu, du bist der erste, der in eine höhere Klasse aufgestiegen ist. In dir ist nur Ehrgeiz. In mir war nur Erinnerung, Tradition, Pflichtbewußtsein. Vielleicht verstehst du gar nicht, wovon ich da rede. Nimm’s mir nicht übel.
    Ich will es also erklären, so gut ich kann.
    Die Wohnung war immer ein bißchen dunkel. Es war eine schöne Wohnung, das heißt ein Haus mit Garten, und es wurde immer etwas verbessert und ausgebaut. Ich hatte im ersten Stock ein eigenes Zimmer, im Nachbarzimmer schliefen die Gouvernanten. Ich glaube, als Kind und als Jugendlicher war ich nie allein. Zu Hause wurde ich genauso dressiert wie später im Internat. Dressiert wurde das wilde Tier in mir, der Mensch, der zum guten Bürger werden und den Dressurakt perfekt beherrschen mußte. Vielleicht sehnte ich mich deshalb mit so dumpfer Hartnäckigkeit nach dem Alleinsein. Jetzt lebe ich allein, seit einiger Zeit habe ich nicht einmal mehr einen Diener. Nur eine Zugehfrau kommt hin und wieder vorbei, wenn ich nicht zu Hause bin, und reinigt mein Zimmer vom Abfall des Lebens. Endlich ist niemand mehr um mich herum, der mich überwacht, beobachtet und prüft … Ich sage dir, es gibt im Leben auch

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