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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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wußten wir zu Hause. Ich betrat das »Arbeitszimmer« stets mit Ehrfurcht und Scheu, blieb vor dem Diplomatenschreibtisch stehen, an dem seit Menschengedenken niemand gearbeitet hatte – nur der Diener rückte jeden Morgen die Kunstgegenstände und Schreibutensilien zurecht –, und ich starrte auf die Porträts der bärtigen Männer, wobei ich mir vorstellte, daß diese düsteren Herren mit dem stechenden Blick in einer ebenso strengen Zweihunderter-Verbindung gelebt hatten wie mein Vater und seine Freunde im Klub. Sie hatten über Bergwerke, Wälder und Werkstätten geherrscht, und aufgrund eines ungeschriebenen Vertrags zwischen dem Leben und der Zeit, aufgrund des ewigen Bündnisses unter einer bestimmten Art von Menschen waren diese Leute stärker und mächtiger als die anderen. Ich dachte mit beklommenem Stolz daran, daß mein Vater zu diesen zeitlos mächtigen Menschen gehörte. Mit beklommenem Ehrgeiz auch, denn ich wollte einmal den Platz meines Vaters in dieser erlauchten Gesellschaft einnehmen. Es hat fünfzig Jahre gebraucht, bis ich gemerkt habe, daß ich nicht zu ihnen gehöre, nicht einer von ihnen bin, so daß ich letztes Jahr endlich aus der Gesellschaft ausgetreten bin, in die ich nach dem Tod meines Vaters hineingewählt worden war, und meinen Posten in der Fabrik aufgegeben und »mich von sämtlichen Aktivitäten zurückgezogen« habe, wie man so sagt. Aber damals wußte ich das natürlich noch nicht. Deshalb stand ich betreten im Allerheiligsten herum, entzifferte die Titel der Bücher, die niemand las, und ich ahnte undeutlich, daß hinter diesen starren Formen und strengen Ziergegenständen etwas Regelmäßiges und kaum Spürbares geschah, nach harten Gesetzen, und wahrscheinlich mußte das so sein, weil es immer so sein muß, wobei es vielleicht doch nicht ganz in Ordnung war, da nie jemand davon sprach. Sobald zu Hause oder in Gesellschaft die Rede auf die Arbeit, das Geld, die Fabrik oder den Kreis der Zweihundert kam, wurden mein Vater und seine Freunde seltsam wortkarg, blickten streng vor sich hin und wechselten das Thema. Da war eine Grenze, weißt du, eine unsichtbare Schranke. Na ja, du kennst das ja. Ich erzähle es trotzdem, denn wenn ich schon angefangen habe, will ich auch alles sagen.
    Ich kann aber nicht behaupten, daß unser Leben kalt und ohne jede Herzlichkeit war. Die Familienfeste hielten wir zum Beispiel allesamt sorgfältig ein. Jedes Jahr war bei uns vier- bis fünfmal Weihnachten. Diese Tage, im Kalender zwar nicht rot vermerkt, waren im ungeschriebenen gregorianischen Jahreslauf der Familie wichtiger als die großen christlichen Feste. Nein, falsch, denn auch die Familie hatte einen geschriebenen Kalender: ein in Leder gebundenes Buch, in dem die Geburten, Eheschließungen und Todesfälle genauestens notiert wurden, so sorglich, wie es vielleicht nicht einmal auf dem Standesamt geschieht. Dieses Buch, das Stammbuch der Familie, das Goldene Buch oder was immer, wurde vom Familienoberhaupt geführt. Mein Urgroßvater hatte das Buch vor hundertzwanzig Jahren gekauft, Urgroßvater im schnurverzierten Ungarnrock, das erste namhafte, schaffende und mehrende Mitglied der Familie, seines Zeichens Mühlenbesitzer in der Tiefebene. Er war es, der zum erstenmal den Namen der Familie, In nomine Dei , ins schwarzlederne Buch mit dem Pergamentpapier schrieb. Er war Johannes II. , Müller und Familiengründer. Und er war es, der geadelt wurde.
    Ich selbst habe ein einziges Mal in das Buch geschrieben, nämlich als mein Sohn geboren wurde. Den Tag werde ich nie vergessen. Es war ein nebliger Oktobermorgen. Ich war aus der Klinik nach Hause gekommen, in der peinlich-glücklichen, hilflosen Stimmung, in der man nur einmal im Leben, nur bei der Geburt des Sohnes ist. Mein Vater lebte damals nicht mehr. Ich ging ins Arbeitszimmer, wo ich genauso selten arbeitete, suchte aus einer unteren Schublade des Diplomatenschreibtischs das mit Schnallen verschlossene Buch hervor, öffnete es, nahm die Füllfeder und malte sehr sorgfältig die Buchstaben: Matthias I. – und dazu den Tag und die Stunde. Ein großer, feierlicher Augenblick. Wieviel Eitelkeit, wieviel zweitklassiges Material ist in jedem menschlichen Empfinden! Ich hatte das Gefühl, die Familie bestehe fort, auf einmal habe alles einen Sinn, die Fabrik, die Möbel, die Bilder an den Wänden, das Geld auf der Bank. Mein Sohn würde meinen Platz in dieser Wohnung, in der Fabrik, im Kreis der Zweihundert einnehmen. Aber er hat eben

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