Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
große Befriedigungen und Freuden. Sie kommen spät und in verzerrter, unerwarteter Gestalt. Aber sie kommen. Als ich nach meiner Jugend im Elternhaus, nach zwei Ehen und zwei Scheidungen in meiner jetzigen Wohnung allein blieb, fühlte ich zum erstenmal im Leben die traurige Erleichterung, etwas zu Ende gelebt, ein Ziel erreicht zu haben. Du weißt, wie jemand, der aus lebenslänglicher Haft plötzlich in die Freiheit entlassen wird, begnadigt wegen guter Führung, und zum erstenmal seit Jahrzehnten schlafen kann, ohne sich vor dem Wärter fürchten zu müssen, der auf seiner Runde auch nachts durch das Guckloch hereinschaut. Das Leben schenkt auch solche Freuden. Sie kosten zwar viel, aber immerhin bekommt man sie.
Freude ist natürlich nicht ganz das richtige Wort … Eines Tages wird man still. Man sehnt sich nicht mehr nach Freude, aber man fühlt sich auch nicht betrogen und beraubt. Eines Tages sieht man ganz klar, daß man alles bekommen hat, Strafe und Belohnung, von allem so viel, wie einem zusteht. Die Dinge, für die man zu feige war oder vielleicht nur zuwenig heldenhaft, hat man nicht bekommen. Das ist alles. Es ist keine Freude, sondern ein Sichabfinden, ein Verstehen und eine Ruhe. Auch so etwas tritt einmal ein. Nur ist der Preis dafür sehr hoch.
Wie gesagt, bei uns zu Hause spielten wir fast bewußt die Rolle des Bürgers. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich dunkle Zimmer. In den Zimmern eine Aufstellung von prachtvollen Möbeln, wie in einem Museum. Es wird dauernd geputzt. Manchmal mit Lärm und elektrischen Geräten, bei weit geöffneten Fenstern, mit Unterstützung von ausgeliehenem, sachverständigem Personal. Manchmal unsichtbar und unhörbar. Immer aber ist es so, als ob jeder, der in ein Zimmer tritt, Dienstbote oder Familienmitglied, gleich etwas zurechtrücken müßte, ein Staubkörnchen vom Flügel bliese, einen Gegenstand abklopfte, die Troddeln einer Gardine ordnete. Wir schonten diese Wohnung, als wäre alles, die Möbel, die Gardinen, die Bilder und die Gebräuche, eine einzige große Ausstellung, gleichzeitig Museum und Kunstwerk, etwas, das man dauernd hegen und pflegen mußte, wobei man in den Räumen auf Zehenspitzen zu gehen hatte, da es sich nicht schickte, zwischen diesen ehrwürdigen Dingen ungehemmt herumzulaufen und laut zu reden. Vor den Fenstern hingen mehrere Vorhänge, die auch im Sommer die Helligkeit schluckten. Hoch oben an der Decke verstreuten achtarmige Kronleuchter ihr Licht ziellos in den Zimmern, in deren Halbdunkel alles ein bißchen verschwamm.
Es standen Glasvitrinen herum, voller Gegenstände, an denen Personal und Hausbewohner ehrfürchtig vorbeigingen, die aber nie von jemandem in die Hand genommen, nie aus der Nähe betrachtet wurden. Da gab es Altwiener Porzellantassen mit Goldrand und chinesische Vasen und Miniaturen, Porträts von völlig unbekannten ausländischen Damen und Herren, Fächer aus Elfenbein, mit denen sich nie jemand fächelte, und winzige Gegenstände aus Gold, Silber und Bronze, Krüge, Tiere, kleine Schüsseln, die nie jemand gebrauchte. In einem Schrank wurde »das« Silber verwahrt wie die heiligen Schriftrollen in der Bundeslade. Dieses Silber wurde wochentags nie verwendet, genausowenig wie die Damasttischtücher und das feine Porzellan. Alles wurde nach dem geheimen Gesetz des Hauses für eine unvorstellbare Feier aufbewahrt, bei der dann für vierundzwanzig Personen gedeckt würde. Doch es wurde nie für vierundzwanzig Personen gedeckt. Natürlich kamen auch zu uns Gäste, und dann wurden »das« Silber und der Damast und die Artefakte aus Porzellan und Glas hervorgeholt, und das Mittag- oder Abendessen verlief nach einem so pedantischen Ritual, als ginge es gar nicht ums Essen, sondern um die Ausführung eines komplizierten Auftrags, der vielleicht darin bestand, in der Konversation nie einen Fehler zu machen oder keinen Teller, kein Glas zu zerbrechen.
Das kennst du ja auch; worüber ich jetzt rede, ist das Gefühl, das mich in dieser Wohnung, in den Zimmern des Elternhauses erfüllte, und zwar nicht nur in der Kindheit, sondern auch später, als ich längst erwachsen war. Ja, es kamen Gäste, zum Abendessen oder sogar als Logierbesuch, wir lebten in der Wohnung, »benutzten« sie auch, doch hinter dem Alltäglichen hatte die Wohnung noch eine tiefere Bedeutung und Aufgabe: Wir hüteten sie in unserem Herzen wie eine Grenzfestung.
Ich werde mich ewig an das Zimmer meines Vaters erinnern. Es war ein großes
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