Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
daß ich sie beobachtete, und zuweilen lächelte sie ein bißchen spöttisch. Dieses Lächeln verschwand auch später nicht aus ihrem Gesicht. Als ob sie sagen wollte: »Ich weiß, daß du mich beobachtest. Dann beobachte mal schön. Ich habe die Lektion gelernt.«
In der Tat, sie hatte die Lektion perfekt gelernt. Fast ein bißchen zu perfekt. Diese Frau hatte sich innerhalb einiger Jahre aus eigener Kraft alles beigebracht, was wir Stil, Umgangsformen, gute Manieren, gesellschaftliche Sicherheit nennen und was uns von unserer Umgebung und unserer Erziehung geliefert wird. Sie wußte, wie man einen Raum betrat, wie man grüßte, wie man ungerührt dasaß, während der Mann bestellte, und gleichzeitig verstand sie es, sich bedienen zu lassen, überlegen und selbstbewußt. Ihre Tischmanieren waren einwandfrei. Sie handhabte Messer, Gabel, Glas und Serviette, als hätte sie nie anders gegessen, als wären da nie andere Requisiten und Umstände gewesen. Ich bewunderte an dem Abend – und später auch – ihre Kleider. Ich verstehe nicht viel von Frauenkleidern und weiß wie die meisten Männer nur, ob die Frau, mit der ich auftrete, korrekt angezogen ist oder ob da irgendwelche geschmacklichen Fehler sind, irgendwelcher Firlefanz. Diese Frau war in ihrem schwarzen Kleid, mit ihrem schwarzen Hut so schön, so beängstigend schön, daß auch die Kellner sie anstarrten. Ihre Bewegungen, wie sie am Tisch Platz nahm und lächelnd zuhörte, während sie die Handschuhe auszog und ich ihr die Speisekarte vorlas, wie sie zustimmend nickte und dann gleich darauf von anderem zu sprechen begann, freundlich zu mir geneigt: das alles war ein einziges Examen, das Examen der Musterschülerin. Sie legte es an diesem ersten Abend mit Auszeichnung ab.
Ich selbst war besorgt, drückte ihr die Daumen, und dann erfüllten mich wilde Freude, Befriedigung, Erleichterung. Weißt du, wie wenn man begreift, daß die Dinge nicht ohne Grund geschehen. Alles, was zwischen uns beiden vorgefallen war, hatte seinen Grund: Diese Frau war eine Ausnahmeerscheinung. Und ich schämte mich auch gleich für meine Besorgnis. Sie spürte das, und, wie gesagt, sie lächelte zuweilen ein bißchen spöttisch. Sie benahm sich im Restaurant wie eine Dame der großen Welt, die ihr ganzes Leben an solchen Orten verbracht hat. Nein, sie benahm sich viel besser. Die Damen der großen Welt essen nicht so schön, halten Messer und Gabel nicht so einwandfrei, sind nicht so vollkommen diszipliniert. Wer in eine Situation hineingeboren wird, rebelliert auch immer ein wenig gegen seine Abstammung und die Zwänge seiner Erziehung. Judit hingegen war noch im Examen, ganz unauffällig, aber auch unbeirrt.
An diesem Abend so wie an den folgenden Tagen und in den folgenden Monaten und Jahren – morgens, abends, unter Menschen und allein, bei Tisch und in Gesellschaft, später auch im Bett und in allen sonstigen Lebenslagen – war das fürchterliche, hoffnungslose Examen im Gang. Judit bestand es jeden Tag mit Auszeichnung; bloß scheiterten wir beide an dem Experiment.
Ich habe auch meine Fehler gemacht, das ist wahr. Wir beobachteten einander wie das wilde Tier und sein Dompteur während der Darbietung. Nie, mit keinem Wort, habe ich Judit kritisiert, habe sie nie gebeten, sich anders zu kleiden, sich auch nur um einen Tonfall, eine Geste anders zu benehmen. Ich »erzog« sie nicht. Ich hatte diese Seele geschenkt bekommen, so wie sie erschaffen und vom Leben geprägt war. Ich erwartete von ihr nichts Außergewöhnliches. Ich wollte keine Dame, kein gesellschaftliches Wundertier. Ich hoffte auf eine Frau, die meine Lebenseinsamkeit auflösen konnte. Doch diese Frau war so entsetzlich ehrgeizig wie ein junger Soldat, der die Welt erobern will und zu diesem Zweck den ganzen Tag büffelt, exerziert, sich stählt. Sie fürchtete nichts und niemand. Außer einer einzigen Sache: ihre eigene Verletztheit, eine schwere, tödliche Kränkung, ein Schwelen in der Tiefe ihres Lebens, ihrer Seele. Davor hatte sie Angst, dagegen unternahm sie alles, mit Taten und Worten und Schweigen.
Ich verstand das nicht. Wir waren ins Restaurant gegangen und aßen zu Abend. Was wir redeten? … Natürlich von London. Auf welche Art wir von London redeten? … Na ja, schon so wie bei einem Examen. London ist eine große Stadt. Sie hat unzählige Bewohner. Die ärmere Bevölkerung kocht mit Hammelfett. Die Engländer sind im Denken und Handeln langsam. Und dann, zwischen den Gemeinplätzen, auf
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