Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
Emigration steht. Du meinst, am Arbeitsplatz und in der Familie vermuteten sie noch nichts, aber in Wirklichkeit wissen schon alle, daß du dich auf der ausländischen Botschaft um ein Visum und einen Platz auf der Einwandererliste bemüht hast. Deine Familie redet geduldig und aufmerksam zu dir, wie zu einem Verrückten oder einem Missetäter, der einem zwar leid tut, während man aber schon den Hausarzt und den Privatdetektiv benachrichtigt hat. Eines Tages merkst du, daß du in einer Art Hausarrest und unter ärztlicher Kontrolle lebst.
Und wenn man das weiß, wird man mißtrauisch. Man geht sehr behutsam vor und wägt jedes seiner Worte ab. Nichts ist schwieriger, als eine gegebene Lebenssituation zu demontieren. Es ist so kompliziert, als müßte man eine Kathedrale abreißen. Von so vielem mag man sich nicht trennen. Natürlich gibt es in kritischen Situationen kein größeres Vergehen an uns und unseren Lebensgefährten als die Sentimentalität. Es braucht lange, bis man weiß, wozu man im Leben ein Recht hat. Bis zu welchem Grad man Herr seines Lebens ist oder wie weit man sich und sein Schicksal an die Gefühle und Erinnerungen verkauft hat. Du siehst, ich bin hoffnungslos bürgerlich: Für mich war das Ganze, die Scheidung, der stille Protest gegen meine familiäre Situation und meine gesellschaftliche Stellung, irgendwie eine rechtliche Frage. Natürlich nicht nur im Sinn des Scheidungsprozesses und der Alimente. Zwischen den Menschen gibt es auch noch ein anderes Recht. Man fragt, während langer Nächte oder auf der Straße in der Menge, wenn einem plötzlich die Zusammenhänge aufgehen: Was habe ich bekommen? Was habe ich gegeben? Was bin ich schuldig? Heikle Fragen. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, daß es zwischen den Verpflichtungen ein Recht gibt, das nicht die Menschen gemacht haben, sondern der Schöpfer. Ich habe das Recht, allein zu sterben, verstehst du?
Das ist ein großes Recht. Alles andere ist eine Schuldigkeit. Etwas ist man der Familie schuldig, oder der Gesellschaft, der man tatsächlich viel Gutes verdankt, oder einem Gefühl oder den Erinnerungen. Doch dann kommt der Augenblick, da sich die Seele mit der Sehnsucht nach Alleinsein füllt. Wenn man nichts anderes mehr will, als sich in Stille und Würde auf den letzten Moment vorzubereiten, auf die letzte menschliche Aufgabe, den Tod. Man muß aber aufpassen, daß man nicht falschspielt. Denn dann hat man kein Recht zum Handeln. Solange man aus Egoismus handelt, solange man aus Bequemlichkeit oder aus Gekränktsein oder eitlem Begehren die Einsamkeit sucht, so lange bleibt man der Welt und allen, die einem die Welt bedeuten, etwas schuldig. Solange man Sehnsüchte hat, hat man auch Verpflichtungen. Doch es kommt der Tag, da die Seele sich ganz mit dem Bedürfnis nach Alleinsein füllt. Wenn man nichts anderes mehr will, als alles Unnötige, Verlogene, Nebensächliche aus ihr hinauszuwerfen. Wenn man sich zu einer langen, gefährlichen Reise rüstet, packt man sehr sorgfältig. Man prüft jeden Gegenstand mehrmals, beurteilt ihn nach verschiedenen Gesichtspunkten, und erst dann legt man ihn zum bescheidenen Gepäck. Erst wenn man weiß, daß man ihn unbedingt brauchen wird. Auf diese Art verlassen die chinesischen Mönche, wenn sie auf die Sechzig zugehen, ihre Familie. Und nehmen nur ein kleines Bündel mit. Lächelnd und wortlos gehen sie in einer Morgenfrühe weg. Nicht auf etwas Neues zu, sondern in die Berge, in die Einsamkeit und in den Tod. Das ist die letzte Reise des Menschen. Darauf hat man ein Recht. Und das Gepäck muß leicht sein, in einer Hand zu tragen. Nichts Eitles, nichts Überflüssiges mehr darin. Diese Sehnsucht wird in einer bestimmten Lebensphase sehr stark. Auf einmal hört man das Rauschen der Einsamkeit, und es ist ein bekannter Ton. Als wäre man am Meer geboren und hätte dann in lärmigen Städten gelebt und hörte eines Nachts im Traum das Meer. Allein leben, ohne Ziel. Einem jeden geben, was ihm zusteht, und dann weggehen. Die Seele reinigen und warten.
Zuerst ist die Einsamkeit hart wie ein Richtspruch. Es gibt Stunden, da meint man, sie nicht ertragen zu können. Vielleicht wäre es doch gut, jemanden zu haben, vielleicht wäre die schwere Strafe leichter, wenn man sie mit jemandem teilen könnte, mit irgend jemandem, mit unwürdigen Gefährten, mit fremden Frauen. Das sind die Stunden der Schwäche. Doch sie vergehen, denn die Einsamkeit umarmt allmählich auch dich, dich persönlich, so wie
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