Wanja und die wilden Hunde
seine Hündin jagt. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht ins Haus. Ich bin verblüfft über diese schnelle Kapitulation und kann unser Glück kaum fassen, da öffnet sich die Haustür und der Mann erscheint mit einem Gewehr. Ich werde blass bis ins Herz.
»Was haben Sie vor?«, schreie ich panisch. Er schaut mich nicht einmal an.
»So, du Miststück, jetzt knall ich dich ab!«, brüllt er und nimmt seine Hündin ins Visier. »Und den bissigen Bastard gleich noch mit«, fügt er drohend hinzu und blickt zu Wanja.
Ich renne auf ihn zu, halte das Gewehr fest und schreie: »Da müssen Sie mich aber auch erschießen«, was in meinem noch ungelenken Russisch sicher eher klingt wie: »Dann mich auch peng.«
Ich spüre die Wut des Bauern und ahne, dass ich so nicht weiterkomme. Außerdem habe ich schreckliche Angst. Ich greife zum äußersten Mittel. »Ich könnte Ihnen den Hund abkaufen. Ich habe Dollar.«
Ich möchte keinen falschen Eindruck von der Seele eines russischen Bauern vermitteln, denn ich habe wunderbare kennengelernt, doch dieser Mann hier sieht mich an, als hätte ich einen Zauber ausgesprochen.
Laska, die rechte Pfote von Wanja
»Dollar?«, fragt er ungläubig. Wir schreiben das Jahr 1993, und zu diesem Zeitpunkt hat der Dollar den Ort Demuschkina noch nicht erreicht.
»Wie viel?«, fragt er, als ich nicke.
»Fünfundzwanzig«, versuche ich mein Glück.
Der Bauer lässt das Gewehr sinken und strahlt. »Fünfundzwanzig«, wiederholt er zärtlich. »Abgemacht.« Er streckt mir die Hand entgegen.
Zurück in Lipowka taufe ich die Hündin Laska, denn sie ist sanft und wesensstark. Laska bedeutet »Zärtlichkeit«. Als ich sie das erste Mal berühren darf und an ihr Halsband komme, schreit sie wieder auf, läuft aber nicht davon. Ich taste mich vorsichtig durch ihr dickes Fell. Das Band ist in den Hals gewachsen. Der Bauer hat es ihr offenbar schon angelegt, als sie noch jung war, und nie gewechselt. Halsbänder wachsen nicht mit.
Mir wird übel vor Mitleid und ich bin ratlos, wie ich Laska davon befreien könnte. Einen Tierarzt gibt es in der ganzen Gegend nicht mehr. Er ist genauso weggezogen wie der Pfarrer und der Arzt. Die Bauern helfen den Tieren selbst.
Dann fällt mir Jura ein. Er ist leitender Arzt und Chirurg in einem kleinen Krankenhaus in Demuschkina. Er und seine Frau Tamara sind meine besten Freunde. Die beiden haben elf Kinder. Neun davon sind adoptiert. Alle adoptierten Kinder haben schwerste Misshandlungen hinter sich, was ihnen dank der großen Fürsorge von Jura und Tamara heute niemand mehr anmerkt. Die Kinder sind meine Patenkinder, und jedes einzelne von ihnen ist wunderbar. Sie kommen mich oft in Lipowka besuchen und mein Haus gleicht dann einer Jugendherberge. Zu viert schlafen die Größeren im großen Bett. Die Kleineren zu dritt im kleinen, und der Rest der Bande liegt auf Matratzen auf dem Boden. Der Küchenofen ist der begehrteste Platz, denn da darf man allein liegen. Allein in einem Raum zu sein bedeutet einen so großen Luxus für diese Kinder, dass sie sich darum streiten.
Jura als Chirurg könnte uns helfen und Laska von dem eingewachsenen Halsband befreien. Anrufen kann ich ihn nicht, denn das einzige Telefon in Lipowka ist kaputt, also mache ich mich auf den Weg.
Ich sperre alle Hunde in den Hof und nehme nur Wanja und Laska mit. Der sonst so menschenscheue Wanja liebt Juras Kinder sehr. Sie dürfen ihn kraulen und mit ihm schmusen, dass es eine wahre Freude ist. Alle Kinder gehen sehr ruhig mit Tieren um. Hier verwechselt niemand ein Tier mit einem Kuscheltier. Das mag vielleicht daran liegen, dass die Kinder noch nie ein Kuscheltier hatten, vermutlich aber eher daran, dass sie gelernt haben, auf andere Wesen zu achten. Sie selbst halten einen riesigen Bernhardiner, der seine Tage als Untermieter unter dem Küchentisch verbringt und offene Türen auf die Straße oder zum Garten hin hartnäckig ignoriert.
Die ganze Familie ist zu Hause, als wir gegen 17 Uhr ankommen. Sofort wird das Wenige, was da ist, einladend aufgetafelt und zu vierzehnt sitzen wir um den riesigen Küchentisch – inklusive Bernhardiner im Fußbereich. Wanja und Laska liegen im Vorraum und ich berichte von Laskas Unglück. Puschkin, ein zehnjähriger Lockenkopf, der diesen Spitznamen seiner Haarpracht verdankt, fängt sofort an zu weinen. Auch die anderen sind sehr betroffen, und der Mentalitätsunterschied zu den Bauern ist sofort spürbar.
Jura und Tamara kommen aus einer Stadt in
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