Wanja und die wilden Hunde
Moldawien und sind gebildet in Bereichen, die man auf dem Land nicht braucht. Hier auf dem Land sind die Bauern in Dingen gebildet, die lebensnotwendig sind. Was sie über Natur, Anbau, Ernte, Nahrungsverwertung und Tiere wissen, weiß niemand von uns. Ohne die Bauern hätten wir kein Essen. Nichts. Wir wären völlig hilflos. Aber auch wenn wir sie für diese Fähigkeiten bewundern, ist es schwer, sich an ihre Einstellung Tieren gegenüber zu gewöhnen.
»Ja, die Huskyhündin vom Andrejew, die war immer an der Kette, und er hat sie im Suff auch geschlagen«, erzählt Jura. »Übrigens bekommst du für fünfundzwanzig Dollar schon ein Fohlen, und ein Pferd gilt hier etwas«, fügt er hinzu.
»Gut, dass du sie gerettet hast«, ruft Tonja, die Kleinste, begeistert.
»Eigentlich hat Wanja sie gerettet«, erwidere ich und erzähle die Geschichte.
»Bring Wanja doch mal ein Stück Wurst«, schlägt Anton, der Zweitälteste, vor. Wurst ist etwas ganz Kostbares und der Bernhardiner unter dem Tisch hat sicher noch nie etwas davon bekommen.
»Kannst du Laska denn helfen?«, frage ich Jura.
Er nickt und wischt sich den Mund ab. »Ich hole aus dem Krankenhaus, was ich brauche, und ihr macht den Wohnstubentisch sauber, legt eine Wachstuchdecke darauf, bringt Bettlaken und setzt Wasser auf.«
Ich frage, ob ich bei der OP dabei sein muss, denn obwohl ich einmal eine Ausbildung zur Krankenschwester begann, wird mir schlecht beim Anblick von Blut bei mir vertrauten Lebewesen. »Ja, ich brauche dich«, sagt Jura.
Ich möchte hier gar nicht wiedergeben, wie die OP auf dem Wohnstubentisch von Jura abläuft. Auf jeden Fall ist sie furchtbar und ich schaue so oft es geht zur Decke. Nachdem die letzten Stiche genäht sind, erwacht Laska lange nicht aus der Narkose. Wir beginnen uns Sorgen zu machen und Jura will bereits weitere Medikamente aus dem Krankenhaus holen, als sie endlich die Augen aufschlägt und wieder bei uns ist.
Weil sie sehr schwach wirkt, übernachten wir im Haus meiner Freunde auf dem Wohnzimmerboden.
Laska ist eine große Bereicherung für das kleine Rudel. In ihrer Sanftheit besitzt sie – wenn nötig – auch eine große Bestimmtheit. Wenn Bambino zum Beispiel jede Distanz verliert und allen auf die Nerven fällt, stellt sie sich einfach vor ihn hin und blickt ihn an. Bambino kratzt sofort die Kurve und legt sich irgendwo auf einen geschützten Platz unter das Haus oder hinter einen Vorsprung. Ich kann nicht erkennen, dass Laska irgendetwas anderes tut als ihn anzuschauen.
Jura entdeckte während seiner Untersuchung, dass sie eine Kastrationsnarbe hat. Sicher landete sie deshalb für wenig Geld auf dem Land. (In Russland herrscht zu dieser Zeit noch die Meinung, dass ein Rassehund nach der Kastration nichts mehr wert ist.) Für mich ist das natürlich ein Glück. Was würde ich mit den Welpen tun? Ich habe mich in den letzten Monaten gerade an die Anwesenheit von fünf Hunden gewöhnt. Noch mehr davon würden mich überfordern, denke ich, nicht ahnend, dass die Wege, auf denen weitere Hunde zu mir kommen, noch überraschender sind als ein Wurf Welpen.
Grenzen setzen
Alle Hunde in Lipowka bleiben bei ihren Menschen, obwohl sie nur selten von ihnen beachtet werden. Sie gehen nach Herzenslust ihrer Natur nach, indem sie territoriale Grenzen sichern, jagen, dösen, herumstromern und – je nach Sympathie – miteinander spielen.
Keiner der Bauern hat je etwas von Handfütterung, Bindungsaufbau oder Grundsätzen der Hundeerziehung gehört. Alle Hunde jedoch gehorchen ihnen. Die Bauern machen sich über die Art der Erziehung keinerlei Gedanken, vielleicht weil die Gedanken allgemein in Lipowka erst nach den Taten kommen. Man handelt hier nach Gefühl und aufgrund von langer Erfahrung.
Wenn eine Bäuerin ihren Hund ruft, dann tut sie dies nicht, weil sie Sehnsucht nach ihm hat, herausfinden will, ob er gehorcht, oder weil sie Angst hat, er könnte weglaufen. Sie ruft ihn nur, wenn es wirklich nötig ist.
Damit benehmen sich die Lipowkaer ähnlich wie die Hunde selbst. Wanja schaltet sich nur ein, wenn es wirklich nötig ist. Ansonsten kann jeder der Hunde tun und lassen, was er will.
Das ist für mich eine Entdeckung.
Ich bin aufgewachsen mit einer Foxterrier-Hündin, Berry, die von meinem (später abgewanderten) Vater täglich mit Exerzierübungen beschäftigt wurde. Das »Sitz« musste zackig erfolgen. Am Straßenrand hatte sich das Tier ohne Ausnahme hinzusetzen, auch wenn dort eine tiefe Pfütze
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