Wanja und die wilden Hunde
Dieses Mal setzt Anton hinterher, rempelt Bambino mit dem Kopf in die Seite, wirft ihn auf den Rücken und stellt sich ruhig über ihn. Dabei schaut er nicht auf den verdatterten Bambino, sondern blickt starr geradeaus. Er wartet, bis Bambino sich restlos beruhigt hat und auch dessen Schwanzspitze endlich Ruhe gibt. Dann geht er weg, um sich entspannt in den Sand zu legen. Bambino steht auf, schüttelt sich und geht schnüffelnd über den Hof.
Eine Viertelstunde später sehe ich, wie Bambino neben Anton liegt und schläft.
Auch hier nehme ich dieselbe Situation wie bei Baba Mascha und ihrem Hund wahr. Es gab eine Grenzsetzung, danach aber ist sofort alles wieder gut.
Jetzt erst bemerke ich, dass ich noch immer wütend bin auf Wanja, weil er gestern nicht kam, als ich ihn rief. Auch ließ ich nach der Aktion mit den Schafen keine Konsequenz folgen, wie Anton es eben bei Bambino tat. Ich dachte, es sei schon zu spät dafür, und hätte auch gar nicht gewusst, was ich außer zu schimpfen hätte tun können. Meine Erfahrungen mit Grenzsetzungen sind völlig anderer Art. Maßregelungen, die mir widerfuhren, hielten tagelang an, und ich wusste nie, wann und ob überhaupt es jemals wieder gut sein würde.
Im Vergleich zu Hunden scheinen wir Menschen oft genau entgegengesetzt zu agieren. Wir versuchen, die Harmonie so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, und wenn die Situation dann nicht mehr auszuhalten ist, weil sie auf unsere Kosten geht, kracht es. Dann aber so nachhaltig, dass es uns schwerfällt, die dadurch entstandene schlechte Stimmung wieder aufzuhellen. Die Leichtigkeit, mit der die Hunde sofort nach einer Grenzsetzung wieder miteinander umgehen, imponiert mir in höchstem Maße.
In den folgenden zwei Tagen beobachte ich genauer, wie die Hunde sich untereinander Grenzen setzen.
Es sind immer wieder dieselben Abläufe: strenger Blick und/oder Lefzen heben und/oder knurren. Danach eine Konsequenz, wenn die Warnung nicht gewirkt hat, wie kurzes Schnappen, Rempler, über die Schnauze beißen, auf den Rücken werfen, darüberstellen oder den Weg versperren.
Danach sendet der, der eine Grenze gesetzt hat, sofort eine freundliche Geste, wie über die Schnauze lecken, sich strecken, den Blick abwenden oder sich entspannt hinlegen. Erledigt.
Es ging nicht darum, die Beziehung aus dem Gleichgewicht zu bringen, sondern nur darum, diese Grenze zu setzen.
Am dritten Tag beschließe ich, meinen Ehrgeiz nicht mehr darauf zu konzentrieren, die Schafe rechtzeitig zu entdecken, sondern darauf, dass meine Hunde – genau wie die übrigen Dorfhunde – alles in Ruhe lassen, was in Lipowka lebt.
Ich setze mich kurz vor 17 Uhr vor mein Haus. Ein Schrubber lehnt neben mir. Wanja liegt vor mir. Die anderen Hunde habe ich erst einmal in den Hof gesperrt. Mir erscheint es sinnvoll, zuerst dem Leithund eine Grenze zu setzen. Ich bin aufgeregt.
Als die erste Sandwolke zu sehen ist und Wanja aufspringt, trete ich vor ihn und rufe: »Hej!«
Wanja blickt mich überrascht an.
Die Wolke nähert sich, und das Trappeln der Tiere wird hörbar.
Sein Blick verändert sich. Die Pupillen werden weit und dunkel. Er will nach vorn schießen.
Ich bin, beschleunigt durch meine Angst vor den Folgen, schneller und versperre ihm mit dem Schrubber den Weg.
Er beißt in den Schrubber.
Ich stelle mich vor ihn und dränge ihn mit meinem Körper zurück.
Er schaut mich mit starrem Blick an.
Ich spüre, wie er abwägt, ob er mich aus dem Weg beißen soll oder nicht. Ich bin schockiert. Ich habe Gänsehaut. Bis ins Herz. Aber ich will, dass er lebt.
Und gehe ihm noch einmal entgegen.
Wanja zieht die Lefzen nach oben, weicht jedoch zurück. Als die Tiere an uns vorbeiziehen, stehe ich wie ein General mit dem Schrubber vor Wanja.
Er beißt noch einmal hinein, als ich ihn zurückdränge, und ich schließe nicht aus, dass er mich gebissen hätte, wenn ich die Hand benutzt hätte statt des Schrubbers.
Ich sitze den ganzen Abend unter Schock in meinem Haus. Wanja liegt vor mir. Er blickt mich mit grundguten Augen an. Ich schaue auf den Hund, und mir dämmert langsam, dass ich hier eigentlich zwei Wesen vor mir habe, die einen Hund ergeben. Ein Wesen, das freundlich und souverän ist im Umgang mit mir und den anderen Hunden, und ein Wesen, das stets bereit ist zu jagen oder sein Territorium und sein Rudel nach außen zu schützen. Es ist jetzt an mir, nicht nur das eine Wesen davon zu lieben.
Ich wiederhole die Aktion so lange, bis ich keinen
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