Wanja und die wilden Hunde
gibt. Bereits mehrfach wurde sie aus der Klinik entlassen, um bei ihrer Familie sein zu können. Doch die ansonsten kerngesunde Olga hält es dort nicht einen Tag aus, ohne zu arbeiten. Wenn sie aber länger als eine halbe Stunde arbeitet, kippt sie um. Durch diese plötzlichen Ohnmachten zog sie sich bereits mehrere Verletzungen zu. Mit den Tabletten, die ich in den Händen halte und die, weil sie (angeblich) abgelaufen sind, in Deutschland weggeworfen werden, könnte Olga ein normales Leben führen.
Weil mittlerweile alle betroffen und aufmerksam zuhören, berichte ich auch von der alten Marfa, die Magenkrebs hat. Sie ist in ihr Haus nach Lipowka zurückgekehrt, da es im Krankenhaus keine Medikamente gibt, die ihre Schmerzen lindern könnten, und sie lieber zu Hause sterben möchte.
Es wird beschlossen, dass ich ein paar Säcke voll Medikamente mitnehmen kann, wenn Jura, der ärztliche Leiter des Krankenhauses in Demuschkina, die missliche Situation per Fax bestätigt.
In einem kleinen Lkw, gefahren von einem russischen Freund, werden die Medikamente von Berlin nach Demuschkina transportiert. Auch Kleidung, Spielzeug, Bettwäsche und Schuhe, die Freunde über das Jahr gesammelt haben, sind mit an Bord. Ein Optiker spendet einen Koffer voll alter Lesebrillen, die den Alten wieder den Genuss des Lesens ermöglichen werden. Eine halbe Stunde nach Ankunft des Lkws ist fast das ganze 300-köpfige Dorf versammelt.
Bei meiner ersten Begegnung mit Juras elf Kindern im Jahr 1991 besaßen nur vier von ihnen Schuhe, die nicht kaputt waren. Die anderen liefen in Provisorien aus altem Schuhwerk und Lappen umher, wenn es zum Barfußlaufen zu kalt wurde. Die Kinder besaßen nur selbst gebasteltes Spielzeug, ausgebesserte Bettwäsche und Kleidung, die bereits schon von den älteren Geschwistern geflickt getragen worden war.
Wie sicher überall auf der Welt, wo kein Überfluss herrscht, erlebe ich auch bei Juras Kindern keine Klagen, sondern fröhliche Gesichter. Das Entsetzen über diese Zustände war allein auf meiner Seite.
Den Menschen hier sind völlig andere Dinge wichtig. So erlebe ich in der 13-köpfigen Familie von Tamara und Jura einen großen Zusammenhalt und eine nährende Wärme, die für mich, nach dem was die Kinder bereits erlebt haben, an ein Wunder grenzt. Vier der adoptierten Kinder sind Waisen aus dem Transnistrien-Konflikt (Auseinandersetzungen zwischen der Republik Moldau und dem Regime im östlichen Teil Moldawiens Anfang der 1990er-Jahre). Andere kommen aus verwahrlosten Elternhäusern. Einige von ihnen haben bereits im Alter von sechs bis neun auf der Straße gelebt, um den Schlägen der betrunkenen Eltern zu entgehen, oder kommen aus Heimen.
Einmal erzählte mir der damals zehnjährige Andrej, der Junge, der wegen seiner Lockenpracht auch Puschkin genannt wird, wie er als Vierjähriger im Heim täglich viele Stunden mit den anderen Kindern in einem Raum sitzen musste, mit dem Rücken an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Eine Aufseherin saß auf einem Stuhl in der Mitte und bestrafte jeden Laut, der einem Kindermund entfuhr, jede Kinderhand, die sich bewegte. Puschkin sprach auch nach seiner Adoption in Juras und Tamaras Familie ein Jahr lang kein Wort.
Während er mir davon erzählte, begann Tonja zu zittern. Auch sie kommt aus einem Heim.
Während die Sachen aus dem Lkw verteilt werden, gehe ich mit Jura in das Krankenhaus. Er überlässt mir einige Medikamente, die von den alten Bauern in meinem Dorf benötigt werden könnten. Es sind Mittel gegen Erkältungen, Grippe, Kopfschmerzen und Kreislaufschwäche sowie Heftpflaster, Verbände, Hexenschusspflaster, eine Salbe gegen Schmerzen und anderes mehr.
Dann erzählt er mir von seiner Tochter Tonja. »Du weißt ja, wie gut sie mit Tieren umgehen kann. Sie will Raubtierdompteurin werden. Im Zirkus«, sagt er, nicht ohne einen gewissen Stolz.
»Ach?«, erwidere ich, beeindruckt davon, dass ein Vater einen derart ungewöhnlichen Wunsch seines Kindes so ernst nimmt.
»Ja, und nächste Woche fahre ich mit ihr nach Moskau zum Staatszirkus, und Tonja stellt sich vor«, erzählt er weiter.
Ich bin so gerührt, dass ich aufstehe und ihn umarme. Jura sieht mich überrascht an. »Das ist ganz toll, dass du das für Tonja machst«, füge ich erklärend hinzu, und wir werden beide rot.
Als wir wieder auf den Platz kommen, auf dem der Lkw steht, sind alle Sachen verteilt – bis auf den Koffer mit den Lesebrillen und die Kleidungsstücke für
Weitere Kostenlose Bücher