Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
aus dem Wasser gehoben. Jemand rief meinem Vater etwas zu. Er schwamm und paddelte und kletterte schließlich mit triefnasser Kleidung über die Außenleiter ins Boot unserer Retter. Er war außer Atem. Zitterte, umarmte mich, hielt mich so fest, dass ich husten musste. Auch ich umarmte ihn, und es war nicht ganz klar, wer hier gerade wen tröstete. Das Paar, das uns herausgefischt hatte, war so freundlich, unser Boot zu suchen. Es lag im Schilf, und wir nahmen es ins Schlepptau. Als mein Vater, in eine Decke gehüllt, sah, wie sich der Mann eine Zigarette anzündete, fragte er »Darf ich auch eine?«, und er bekam eine. Vier Jahre lang hatte er nicht geraucht.
Als wir im Schlei-Segel-Club ankamen, wurden wir von einer ganzen Traube Menschen empfangen. Und von da an kursierte unter den Schleswiger Seglern die Geschichte vom Herrn Professor, der seinen Sohn über Bord geschlagen hatte, bei Windstärke null in Seenot geraten war und gerettet werden musste. Und alles ohne Segelschein! Auf dem Weg nach Hause sagte mein Vater zu mir: »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das nicht gleich heute Abend erzählst. Nur für heute Abend könnte das doch unser kleines Geheimnis bleiben.« Natürlich wollten meine Brüder und meine Mutter wissen, warum ich zwei blutdurchtränkte Wattepfropfen in der Nase hatte, aber ich log, log für meinen Vater und sagte, ich wäre gegen den Mastbaum gelaufen. Ich log, und mein Vater nickte mir dankbar zu. Danach hat er seine Sepia, die JoMaHe, nie mehr betreten.
Der Meiler
Nach dieser nautischen Niederlage entzog mein Vater dem Meer seine Zuneigung und wandte sich mit aller Macht dem Land zu. Er entdeckte eine Annonce in den »Schleswiger Nachrichten«, und ohne lange zu überlegen, kauften wir eine kleine heruntergekommene Reetdachkate an der Ostsee.
Direkt gegenüber von unserem Häuschen war noch ein anderes kleineres Gebäude, der sogenannte Altenteil. Einst gebaut für die alt gewordenen Eltern, wenn die Kinder den Hof übernahmen. Beide Häuser gehörten zusammen, begrenzten den Hofplatz. Die Gärten gingen jeweils nach hinten raus. Wir hatten also nicht nur ein sehr reparaturbedürftiges Haus erworben, sondern auch in unserer unmittelbaren Nähe alteingesessene Nachbarn bekommen. Die Familie, die zu viert in diesem winzigen Schrotthaus lebte, bildete in den kommenden Jahren das knallharte Kontrastprogramm zu unserer sich nach und nach ländlich verwirklichenden Selbstversorger-Idylle.
Kurz nachdem wir dieses Häuschen zu einem Spottpreis erstanden hatten, sah ich im Fernsehen in einer Kindersendung einen Bericht über einen Meiler. Das Wort ›Meiler‹ hatte ich zuvor noch nie gehört. In dem Beitrag war jeder Arbeitsschritt zum Bau genau beschrieben und in eindrücklichen Bildern gezeigt worden: Das Aufschichten des mehrere Meter hohen Holzstoßes. Das Abdecken mit Erde und Grassoden. Das Anfeuern und die exakt gestochenen Löcher zur Sauerstoffversorgung des Meilers. Dann das mehrere Tage, ja Wochen andauernde, stetige Rauchen des Erdhügels. Und schließlich das Öffnen und Löschen der zu Holzkohle gewordenen Scheite. Ich war begeistert.
Während ich an einem Sonntag mit meinem Vater im Auto aufs Land fuhr – ich durfte, obwohl ich noch zu jung war, vorne sitzen –, erzählte ich ihm detailliert von allem, was ich gesehen hatte. Mein Vater hörte interessiert zu und machte mir den überraschenden Vorschlag, einen solchen Meiler, natürlich viel kleiner, am Nachmittag zu bauen. Nach einer Stunde Fahrt erreichten wir die kleine Straße, an deren Ende das stark renovierungsbedürftige, reetgedeckte Häuschen lag.
Der eigentliche Anlass unseres Kommens war rasch erledigt. Mein Vater hatte seinen Fotoapparat dabei. Wir gingen gemeinsam um das Haus und den Stall herum, und er fotografierte. So schnell wie möglich sollte mit den ersten Baumaßnahmen begonnen werden, und wenn alles gut vorangehen würde, könnten wir, hoffte mein Vater, vielleicht schon in zwei Monaten das erste Mal dort übernachten. Von außen fotografierte er die klaffenden Risse in der Stallwand, die Löcher im bemoosten Reetdach, die abgerissenen Regenrinnen, die zersplitterten Fenster und die an mehreren Stellen sich türmenden Müllberge: Autoreifen, gestapelte Autotüren, Fahrradrahmen, Wellblech, Plastikfolien, Teerpappefetzen, morsche Stalltüren, undefinierbare Knochen und Unmengen von Federn.
»Entweder«, sagte mein Vater, »haben die hier ihre alten Kissen entsorgt oder jahrelang Gänse oder
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