War da noch was - Roman
ausfüllen und Seffy konnte wieder Kind sein. Und Hal … oh, was er für eine gute Vaterfigur abgeben würde. Mein Herz klopfte, und ich spürte, wie mein Puls schneller ging. Er war so belesen, so intelligent, so konzentriert. Der Bruder von Seffys leiblichem Vater, näher würde ich nie kommen, wenn ich Seffy einen Vater verschaffen wollte, und doch war ich all die Jahre nicht darauf gekommen. Dies war die Kernfamilie, die ich mir ersehnt hatte, ebenso wie Seffy, der nach Besuchen bei Freunden, wo er mit Eltern und Geschwistern in lauter und geselliger Runde am Tisch gesessen hatte, nachdenklich nur zu Mum nach Hause gekommen war. Nun hatte er auch noch Hal und Cassie. Wir konnten das auch alles sein, wir vier. Wir konnten diese Familie sein. Werbebilder aus den Fünfzigerjahren kamen mir in den Sinn, und ich sah mich darin sogar mit einer Schürze. Es war nie zu spät.
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und blinzelte in die Sonne, begrüßte sie geradezu, spürte sie auf meinen Wangen, während ich um die Ecke bog an einem Stand mit alten Uhren vorbei. Eine davon, eine alte Standuhr mit herrlichen Sonnenstrahlen auf dem Ziffernblatt fiel mir besonders ins Auge, aber es war ein Gesicht dahinter, das mich innehalten ließ. Hinter einem angrenzenden Stand voller Altarkerzen und Devotionalien,
Madonnenstatuen, alten Weihrauchfässchen und antiken Altartüchern, stand lässig an einen Tapeziertisch gelehnt und ins Gespräch mit einem anderen Händler vertieft, Ivan, der gerade seine Löwenmähne zurückwarf und lachte.
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E rtrug ein lockeres, kariertes Hemd, das ich nicht kannte und das er bis zu den Ellbogen aufgerollt hatte, über einem weißen T-Shirt und Jeans und hatte ein interessiertes Leuchten in den Augen, während er seinem Freund konzentriert lauschte. Als der die Pointe verkündete, warf er den Kopf zurück und brüllte laut heraus – dieses vertraute, fröhliche, unbeschwerte Lachen, das über den Lärm und die Hektik der Händler hinwegschallte. Als er den Blick voll Fröhlichkeit wieder senkte, bemerkte er mich, kurz bevor es mir gelang, eilig die Sonnenbrille aufzusetzen. Erstaunt starrte er zu mir herüber.
»Hattie.«
Ich hatte Ivan nicht mehr gesehen, seit ich ihn in diesem zerwühlten Hotelzimmer in Fréjus verlassen hatte. Ich hatte nicht einmal mehr mit ihm gesprochen, obwohl er mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und auf meinem Handy hinterlassen hatte. Auch seine SMS hatte ich nicht beantwortet. Ich wusste eben, dass er nicht gut für mich war. Ich wusste, er war zu schnell, zu lässig, zu oberflächlich, zu jung und einfach viel zu viel . Ich wusste, er war nicht nur zu hoch, sondern einfach danebengegriffen. Dass er mich ins Verderben stürzen würde. Deswegen hatte ich ihn ebenso rücksichtslos wie wirkungsvoll aus meinen Gedanken verdrängt, was eine meiner herausragenden Fähigkeiten war, siehe die Verdrängung
meines leiblichen Sohnes seit fünfzehn Jahren. Ich konnte, mit höchster Willensanstrengung, wahre Wunder vollbringen und im Sinne der Selbsterhaltung unschöne oder schlimme Dinge vollkommen aus meinem Hirn verbannen. Da hatte ich jahrelange Übung. Und auch Ivan hatte ich einfach verdrängt. Das hier war also ein echter Test. Ich blickte in seine grauen Augen, wenngleich inzwischen durch die Gläser meiner Ray-Ban. War es mir gelungen? Natürlich.
»Ivan.«
Ich lächelte und hielt meine Stimme ganz ruhig.
Er verhielt sich zurückhaltend. Die anfängliche Überraschung und Offenheit verschwand aus seinem Gesicht, als ich seinen Namen so kühl sagte. Er erwiderte mein eisiges Verhalten, Eiswürfel um Eiswürfel.
»Wie geht es dir?«, erkundigte ich mich.
»Danke, gut. Und dir?«
»Gut, danke. Ja, wirklich gut.«
Schweigen.
»Dein neues Hemd gefällt mir.« Eigentlich gar nicht. Oder doch schon, aber ich war verblüfft über dieses Zeichen dafür, wie schnell er sich in ein unabhängiges Wesen mit einem unabhängigen Leben verwandelt hatte. Ich kannte sonst alle seine Klamotten.
»Und mir gefällt dein neuer Mantel.«
»Danke.«
Wieder Schweigen.
»Das hier ist doch gar nicht dein Revier?«
»Hm?« Er starrte mich verständnislos an.
»Portobello«, sagte ich. Mach mit, Ivan, damit wir diese Unterhaltung am Laufen halten. Wir müssen nur ein paar Minuten durchhalten, dann kann ich ohne komisches Gefühl weitergehen.
»Ach so, nein. Aber in Camden hat es gebrannt. Irgend so ein Idiot hat eine brennende Kippe liegen gelassen.«
»Wie
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