War da noch was - Roman
furchtbar.«
»Deswegen hat Ned«, damit nickte er zu dem Freund hinüber, der sich abgewandt hatte, um einen Kunden zu bedienen, »gesagt, ich könnte mir ein paar Wochen lang seinen Stand hier mit ihm teilen, während sie in Camden alles wieder in Ordnung bringen. Wobei es nicht besonders viel zu teilen gibt, weil ich den Großteil meiner Ware verloren habe.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Mein Gott. Wirklich?«
»Ja, aber was soll’s.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Manchmal ist es gut, wieder ganz von vorne anzufangen. Das ganze morsche Holz loszuwerden. Dann weiß man wieder, was man wirklich im Leben will, findest du nicht auch?«
Er musterte mich eingehend. Meinte er etwa mich? War ich das morsche Holz? Wollte er mir absichtlich wehtun? Ich schluckte. Tat ja gar nicht weh.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Man gewöhnt sich an etwas und handelt nur noch nach der Macht der Gewohnheit, mechanisch. Und nicht alle Gewohnheiten sind gut. Das habe ich jetzt erkannt. Ich habe mich weitgehend vom Schmuck gelöst und habe jetzt lieber religiöse Kunstgegenstände und Uhren. Uhren sind wirklich mein Ding.«
»Sie sind schön«, sagte ich und streckte die Hand aus, um zärtlich über eine Mahagoni-Standuhr zu streichen. Sofort riss ich meine Hand zurück. Sie waren schön. Aber ich war eine schlechte Gewohnheit. Geh weiter, Hattie. Nicke freundlich und sage: »War schön, dich zu sehen«, und geh dann weiter. Das wär’s dann für immer. Seine Augen waren viel zu grau, und seine heisere Stimme ließ
viel zu viele Erinnerungen hochkommen. Zu viel Lachen. Wir hatten uns wirklich manchmal ausgeschüttet vor Lachen im Bett, nebeneinander, mit Blick zur Decke oder auf einer Matratze am Fußboden.
»Und du?« Ein fragender Blick in seinen Augen.
»Ich?«
»Bist du noch rechtzeitig zu Seffy gekommen?«
»Oh – ja, das bin ich.«
Natürlich. Er war zu spät in die Schule zurückgekommen. Und ich war den ganzen Weg aus der Provence zu ihm gerast.
»Und?«
»Und ja, er ist zurück. Zurück in der Schule. Alles ist gut. Es … es ist eine lange Geschichte, aber alles ist gut.«
»Gut. Grüß ihn schön von mir.«
Wie seltsam. Das war es. Das gab mir den Rest, dass er mir Grüße an Seffy auftrug. Mir war ein bisschen schwindelig.
»Das werde ich.«
Mir wurde klar, dass ich mich unmöglich verhalten hatte. Er mochte Seffy gern, und ich hätte ihm wenigstens mitteilen können, was passiert war. Aber wenn man selbst so sehr damit beschäftigt ist, nicht unterzugehen, und wie wild herumrudert, dann wirft man leicht alles über Bord, was einen nach unten zu ziehen droht. Ich hatte Ivan über Bord geworfen, weil ich wusste, dass er mich jederzeit zu Fall bringen konnte. Wollte ich mir zum Beispiel ewig die Frage stellen müssen, auf wem diese ruhigen grauen Augen in der Camden Passage gerade ruhten? Wo dieses Lachen ertönte, den Kopf im Nacken, die Kehle hervorgestreckt? Und mich fragen, wie er sich gerade amüsierte und mit wem? Nein, das wollte ich nicht.
Ich holte ein Papiertaschentuch aus der Manteltasche
und tupfte mir damit die Nase, aber vor allem wischte ich heimlich den Lippenstift ab. Dann nahm ich die Sonnenbrille ab. Ich hatte für den Makler am Morgen ein wenig Lippenstift und Wimperntusche aufgetragen, aber ansonsten war ich ungeschminkt. Da. Das bin ich, Ivan. Im hellen Sonnenlicht. Neununddreißig.
»War schön, dich zu sehen, Ivan. Ich muss jetzt los.«
Ich lächelte, wandte mich um und ging die Straße hinab. Mein Herz klopfte. Ruhig, Hattie, ganz ruhig. Ein schöner, gelassener Gang, keine Eile. Halt den Blick auf deine Calvin-Klein-Stiefel gerichtet. Schön, oder? Siehst du? Du hast es fast geschafft. Ist doch ganz leicht. Jetzt. Noch um diese Ecke und du bist aus dem Schneider. Keine dröhnenden Schritte hinter dir? Gut. Kein »Warte noch, Hattie!«, das hinter dir ertönt. Bestens. Ich blieb an der Ecke zur Pembridge Road stehen und betrachtete die belgische Spitze an einem Stand dort. Ich setzte die Sonnenbrille wieder auf und wagte einen vorsichtigen Blick zurück. Es war viel los hier in Portobello, aber meine rasiermesserscharfen Augen hatten ihn schon entdeckt. Er hatte sich abgewandt, war nur noch ein kleiner Fleck in der Ferne, und er redete jetzt wieder mit Ned. Genau wie vor drei Minuten, als er sein Gespräch unterbrochen hatte. Während ich, wie ich zu meinem großen Schrecken feststellen musste, wieder ganz am Anfang stand.
Ich fühlte, wie sich die letzten
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