War da noch was - Roman
gestern getötet. Er ist in ein Kreuzfeuer geraten auf dem Weg zum Krankenhaus. Er war Arzt. Heckenschützen haben ihn erwischt.«
Schockiert hielt ich den Atem an. »Das tut mir so leid.«
»Drei Kinder.«
»Oh, Kit. Es tut mir so leid«, flüsterte ich wieder. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Das ist gar nichts. Wenigstens ging es schnell.« Seine Stimme klang fremd. Sie schien von weither zu kommen, war dünn und dunkel. Ich war völlig verloren, wie ich da von einer Sekunde zur anderen aus meiner eigenen Tragödie in seine katapultiert wurde. Ich konnte meine Gedanken nicht kontrollieren.
»Wenigstens hat er nichts davon mitbekommen«, sagte Kit weiter. »Nicht so wie die anderen, die jeden Tag verschleppt werden. Manche von denen sind noch Jungen, die sich in die Hose machen, während sie auf Lastwagen verfrachtet und weggekarrt werden. Das nennen sie ethnische Säuberungen.«
Meine Gedanken waren wirr und verschwommen. Ich versuchte zu kapieren, was er sagte.
»Ethnische Säuberungen, von wegen – das ist Völkermord. Ich bin in Kroatien, Hattie, und nicht auf einem Shopping-Trip.«
»Ja, nein, ich … ich hatte vergessen, dass … nein, natürlich habe ich nicht vergessen, natürlich nicht, aber …« Ich schwang die Beine über die Bettkante, massierte mir die Schläfen und zwang mich nachzudenken. Für ihn da zu sein. Aber es waren Welten, die uns trennten. Er war so weit weg. Ich zwang mich, bei ihm zu bleiben, mitzuhalten, aber mein Hirn war wie benebelt.
»Kit, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte ich schließlich hilflos. Ich wusste es wirklich nicht. Und dann folgte längeres Schweigen. »Bleibst du noch da?«, fragte ich schließlich, als wäre er bei einer Übernachtungsparty.
»Natürlich bleibe ich noch!«, jetzt schrie er fast. Ich
zuckte zusammen. »Hast du denn die Bilder nicht gesehen? «
Ich bekam Panik. Bilder. Oh – ja, das hatte ich. Vage. Vor einer Weile. Schockierende Bilder aus einem Lager. Ein paar Reporter hatten Fotos geschickt, die wirkten, als wären sie fünfzig Jahre zuvor in Auschwitz aufgenommen worden.
»Mehr als viertausend Menschen sind da gestorben«, fuhr Kit mit leiser, zittriger Stimme fort. »Gefoltert, geschlagen, ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Die existieren einfach nicht mehr … sind einfach verschwunden.«
»Es tut mir so leid, Kit. Verzeih mir. Es tut mir so leid.«
Ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung schwer atmen. Er versuchte, sich zu fangen. Ich entschuldigte mich noch einmal. Unzureichend. Nach einer Weile beruhigte er sich ein wenig. Murmelte etwas. Aber ich verstand nur: »Okay, okay.«
Dann versuchte ich, mit ihm zu reden, ihm zu helfen. Aber er war so weit weg, so still. Ich plapperte immer weiter, erzählte ihm von der Familie, Mums neuem Auto – knallgelb, kaum zu glauben, oder? Lauras Job als Model, dies und das und jenes. Nach einer Weile hörte ich, dass er am anderen Ende der Leitung leise schluchzte. Ich hatte Angst, aber ich ließ ihn weinen, weil mir klar wurde, dass es vielleicht das Ventil war, das er brauchte. Seine einzige Zuflucht. Währenddessen überlegte ich fieberhaft, wie man ihn zurückholen konnte. Dad sollte dort hinreisen, davon war ich überzeugt. Mum und ich hatten schon darüber gesprochen, Laura auch. Aber mein Vater war seltsam zurückhaltend in dieser Beziehung.
»Sollten wir nicht hinfahren und ihn holen?«, hatten Laura und ich vorgeschlagen. »Sollten wir ihn nicht zurückbringen? «
»Nicht, wenn er nicht selbst zurückkommen will«, war die wohlüberlegte Antwort unseres Vaters gewesen.
Kit und ich redeten noch eine Weile. Ich wollte nicht auflegen, bevor er sich nicht wirklich beruhigt hatte, aber er konnte sich gar nicht beruhigen, wie er sagte. Nicht wirklich. Nicht mehr. Nie mehr. Nichts würde mehr sein wie vorher. Und ich konnte seinen Schmerz nicht mindern.
Hätte man mir noch eine Stunde zuvor erzählt, dass ich an diesem Abend beim Zubettgehen an irgendetwas anderes als an mich selbst und mein ganz persönliches Drama denken würde, dann hätte ich es nicht geglaubt. Aber als ich schließlich einschlief, befand ich mich in einem fremden, staubigen Land voller Düsternis. Kit im Tarnanzug in einem Zeltlager, wie etwas, das ich schon mal in M.A.S.H. gesehen hatte, lief mit hinter den Kopf gelegten Händen an Lastwagen vorbei, auf denen rote Kreuze prangten. Dann warf er sich zu Boden, während um ihn herum die Mörsergranaten explodierten.
Erstaunlich, wie
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