Warm Bodies
in der Ferne. »Ich war acht, als ich zum ersten Mal Alkohol getrunken habe, weißt du?« Sie lallt nur ein ganz klein bisschen. »Mein Dad war ein großer Weinkenner. Er und Mom haben immer Weinproben veranstaltet, wenn Dad gerade mal nicht im Krieg war. Sie haben alle Freunde eingeladen, eine Flasche guten alten Wein aufgemacht und einen draufgemacht. Ich habe immer mitten auf dem Sofa gehockt, an dem halben Glas genippt, das ich trinken durfte, und über die albernen Erwachsenen gelacht, weil sie immer alberner wurden. Rosy lief immer knallrot an! Ein Glas, und er sah aus wie der Nikolaus. Einmal haben er und mein Dad auf dem Kaffeetisch Armdrücken gespielt, und eine Lampe ist zu Bruch gegangen. Es war … echt toll.«
Sie malt mit dem Finger im Dreck. Ihr Lächeln ist wehmütig, es gilt niemandem. »Es war nicht immer so trostlos, weißt du, R? Dad hatte seine Momente, und auch wenn die Welt in die Binsen ging, hatten wir unseren Spaß. Manchmal sind wir als Familie losgezogen und haben die irrsten Weine geborgen, die man sich vorstellen kann. Tausend-Dollar-Flaschen eines 97er Dom Romane Conti rollten da durch verlassene Keller.« Sie lacht in sich hinein. »Dad konnte bei so was total ausflippen. Erst als wir hierher gezogen sind, ist er irgendwie … verstummt. Aber vorher, meine Fresse, wir haben echt unfassbare Sachen getrunken.«
Ich sehe ihr beim Reden zu. Sehe, wie ihr Kiefer sich bewegt, und fange jedes Wort auf, das ihr von den Lippenperlt. Ich verdiene sie nicht. Ihre warmen Erinnerungen. Ich würde gerne die nackten Gipswände meiner Seele mit ihnen bemalen, aber alles, was ich darauf male, scheint nicht zu halten.
»Und dann ist meine Mom weggelaufen.« Sie nimmt den Finger aus dem Dreck und begutachtet ihr Werk. Sie hat ein Haus gemalt. Ein idyllisches kleines Häuschen, aus dessen Schornstein Rauch aufsteigt. Eine gütige Sonne lächelt auf das Dach hinunter. »Dad meint, dass sie bestimmt betrunken gewesen ist, deshalb das Alkoholverbot. Aber ich habe sie gesehen, und sie war’s nicht. Sie war sehr nüchtern.«
Sie lächelt immer noch, als sei sie gerade bloß ein bisschen nostalgisch, aber ihr Lächeln ist jetzt kalt, leblos.
»In dieser Nacht ist sie in mein Zimmer gekommen und hat mich eine ganze Weile nur angeguckt. Ich habe so getan, als würde ich schlafen. Als ich gerade aufspringen und ›Huh‹ rufen wollte … ist sie rausgegangen.«
Sie streckt eine Hand aus, um ihre Zeichnung wegzuwischen, aber ich berühre ihr Handgelenk. Ich sehe sie an und schüttele den Kopf. Sie betrachtet mich eine Weile schweigend. Dann rutscht sie ein wenig näher. Sie ist nur ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
»R«, sagt sie, »wenn ich dich küsse, werde ich dann sterben?«
Ihr Blick ist fest. Sie ist kaum betrunken.
»Du hast gesagt, dass nicht, oder? Dass ich mich nicht anstecke, oder? Weil … mir ist nämlich echt danach, dich zu küssen.« Sie zappelt ein bisschen. »Und selbst wenn ich mir was bei dir holen würde, vielleicht wär es ja gar nicht so schlimm. Ich meine, du bist doch jetzt anders, nicht? Du bist kein Zombie. Du bist … etwas Neues.« Ihr Gesicht ist ganz nah. Ihr Lächeln verschwindet. »Na, R?«
Ich schaue ihr in die Augen, treibe in ihren eisigen Flutenwie ein schiffbrüchiger Matrose, der sich nach dem Floß streckt. Nur ist da kein Floß.
»Julie«, sage ich. »Ich muss … dir etwas zeigen.«
Neugierig legt sie den Kopf schief. »Was?«
Ich stehe auf, nehme ihre Hand und gehe los.
Abgesehen vom urzeitlichen Zischen des Regens ist die Nacht ganz still. Er durchnässt die Erde und schmiert den Asphalt, löst die Schatten in glänzend schwarzer Tinte. Ich halte mich in engen Gassen und auf unbeleuchteten Wegen. Julie geht ein kleines Stück hinter mir und mustert mich von der Seite.
»Wohin gehen wir?«, fragt sie.
Ich bleibe an einer Kreuzung stehen, um die Karten meiner gestohlenen Erinnerungen zu Rate zu ziehen, rufe mir Orte ins Gedächtnis, an denen ich nie gewesen bin, Menschen, die ich nie getroffen habe. »Fast … da.«
Ein paar Mal noch vorsichtig um ein paar Ecken geäugt, verstohlene Blicke auf einige Kreuzungen geworfen, und da ist es. Ein fünfstöckiges Haus ragt vor uns auf, es ist so dürr und grau wie der Rest dieser skelettierten Stadt, die gelblich flackernden Fenster wie Augen voller Angst.
»Was zur Hölle soll das, R?«, flüstert Julie, sie starrt das Haus an. »Das ist …«
Ich ziehe sie zur Eingangstür, und dort stehen wir
Weitere Kostenlose Bücher