WARP 1 - Der Quantenzauberer (German Edition)
aber sie hielt sich an dem wichtigsten Argument fest: Garrick würde keinen Fuß in dieses Höllenloch setzen, also mussten sie es tun, wenigstens für eine Nacht.
Sie klopfte an das Dach der Droschke.
»He, Meister, bringen Sie uns ins Old Nichol.«
Der Kutscher schob eine kleine Klappe beiseite und schaute zu ihnen hinunter. »’tschuldigung, Miss. Die Hitze schlägt mir wohl aufs Hirn. Es klang grad so, als hätten Sie Old Nichol gesagt.«
»Ganz richtig, Meister.«
Die buschigen Augenbrauen des Kutschers wanderten in die Höhe. »Ins Old Nichol? Vom West End ins Old Nichol? Will die junge Dame mich auf ’n Arm nehmen, junger Mann?«
»Nein«, erwiderte Riley düster, »will sie nicht.«
Der Kutscher spuckte auf die Straße. »Tja, tut mir leid, aber in das Drecksviertel fahr ich nicht. Das Gesindel würd meiner Braunen glatt die Hufeisen klauen. Ich lass Sie beide in Bethnal Green raus, von da aus müssen Sie schon allein klarkommen.«
Armut und Verbrechen sind in London nie weit weg. Selbst in der modernen Großstadt braucht man nur einen Blick in eine beliebige Seitenstraße zu werfen, und schon sieht man einen Unglückseligen, der versucht, es sich auf dem Pflaster so bequem wie möglich zu machen. Aber im neunzehnten Jahrhundert war das Armenviertel von Old Nichol so mit Elend und Vernachlässigung angefüllt, dass nicht einmal ein Stückchen von der Größe einer Postkarte davon unberührt blieb. Jedes Gebäude war verfallen, jeder Bewohner krank, und jede Beschäftigung drehte sich nur ums nackte Überleben. Selbst das Klima schien hier schlechter zu sein und schuf ein eigenes, feuchtkaltes Reich im Innern der Stadt.
Als Chevie Savano und Riley die Boundary Street entlanggingen, sank alle Hoffnung in ihre Stiefel und versickerte im unebenen Pflaster. Was Armut und Verzweiflung anging, konnte es kein Slum der modernen Welt mit dem Old Nichol aufnehmen.
Aus den zerborstenen Gehwegplatten erhoben sich schmierige Backsteinwände, Stockwerk um Stockwerk. Die Fenster, die wie zufällig angeordnet waren, hatten größtenteils keine Scheiben und waren mit Holzresten vernagelt oder mit Lumpen verhängt. Die Stände auf den Straßen boten vergammelte Waren an, die an jedem anderen Ort auf dem Müll gelandet wären. Die Früchte waren grau und matschig, das Brot von Schimmel überzogen und steinhart.
Selbst die Menschen dort schienen von einem anderen, bösartigeren Gott abzustammen. Keine Spur von dem unverwüstlichen Humor und Kampfgeist des East End, stattdessen nur bellender Husten und drohende Blicke. Die Leute bewegten sich mit einem eigentümlichen schlurfenden Schritt, die Schultern hochgezogen und die Ellbogen eng an den Körper gepresst, um sich so gut wie nur möglich zu schützen.
Chevie war schockiert. »Das ist ja die Hölle auf Erden.«
Riley ging dicht neben ihr. »Wir müssen irgendwo rein. Ein paar solide Bretter zwischen uns und das Old Nichol bringen, bevor es dunkel wird. Und ich muss mich hinlegen.«
Eine ungepflegte Frau stand mit aufgestützten Ellbogen an einem Fenster und starrte mit leerem Blick auf die Straße.
Riley trat auf sie zu, ohne die schmutzigen Straßenkinder zu beachten, die wie Putzerfische an seinen Beinen zupften.
»Haben Sie noch ’n Zimmer frei, Ma’am? Wir brauchen ein Bett für die Nacht.«
Die Frau beäugte ihn misstrauisch unter ihren wirren Locken hinweg.
»Moneten?«
Riley nickte nervös und versuchte, seinen Ekel zu verbergen. »Haben wir. Und Schusswaffen auch, aber die Kugeln sind für die Blauröcke gedacht.«
Schusswaffen war ein wenig übertrieben. Sie hatten Barnums Revolver und sechs Kugeln.
Die Frau lachte schallend, und ihr Atem roch nach Gin. »Blauröcke? Die hab ich seit zweiundneunzig nicht mehr hier gesehen, als sie versucht haben, sich den Verräter Giles zu schnappen. Das war vielleicht ’n Morgen. Da war genug blaues Blut im Rinnstein, um die Cholera wegzuschwemmen.«
»Haben Sie ein Zimmer oder nicht?«, hakte Riley nach.
»Oben unterm Dach ist was frei. Der Kerl davor hat Mittwoch den Geist aufgegeben. Irgendwer hat ihn draußen auf den Haufen gepackt, glaub ich.«
»Wie viel?«
In den Augen der stinkenden Frau funkelte die Gier auf. »Ich würd zwei Shilling nehmen.«
»Das glaube ich Ihnen sofort, wenn ich dumm genug wäre, Ihnen die zu geben. Ich habe hier ein schimmerndes Sixpence-Stück, das können Sie nehmen oder auch nicht. Wenn Sie’s nicht wollen, suchen wir weiter.«
Die Frau rieb sich über das
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