Warten auf den Monsun
sogar allein in seinen Rollstuhl steigen können, glauben sie. Aus seinem alten Arbeitszimmer haben wir jetzt ein Schlafzimmer gemacht. Zuerst war er dagegen. Er wollte einen Lift, so wie in Häusern in London, aber hier gibt es niemanden, der so etwas einbauen kann, deshalb machen wir es nun so. Ich habe in den vergangenen Monaten oft an die Sommer in England gedacht. Manchmal bereue ich es, daß ich nicht zurückgegangen bin, und frage mich, was um alle Welt ich hier tue. Ich bin oft allein und habe niemand, mit dem ich über meine Sorgen und Gefühle reden kann. Du bist so weit weg, die letzte britische Familie ist nach England zurückgegangen, und die Atmosphäre im Club hat sich völlig verändert, seitdem nur noch Inder kommen. Vater sitzt meistens schlechtgelaunt in seinem Rollstuhl im Salon und schimpft, wenn er seinen Tee oder Kaffee nicht schnell genug bekommt. Vor ein paar Jahren habe ich einmal einen sehr netten Mann kennengelernt, aber an dem hat er kein gutes Haar gelassen, so daß auch ich ihn irgendwann nicht mehr wollte. Also lese ich viel, obwohl ich alle Bücher in der Bibliothek schon mindestens zweimal gelesen habe. Wirklich glücklich fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich Klavier spiele und wenn ich Sita besuche, unsere alte Ayah. Zu ihr gehe ich jeden Montag von fünf bis sieben und spiele mit ihrem kleinen Sohn Parvat, einem ungeheuer klugen und hübschen Jungen. Ich habe sie gefragt, ob ich für ihn Klavier spielen darf, aber sie möchte nicht, daß ich das Baby ins große Haus mitnehme, also singe ich mit ihm englische Kinderlieder. Gestern war ein schlimmer Tag, ich spielte gerade das Impromptu Nr. 4 von Schubert, ein wunderbares Stück, und war bei einer sehr schwierigen Passage, als er wieder ganz laut mit einem Stock gegen die Wand des Klavierzimmers schlug, das nun an sein Schlafzimmer grenzt. Das bedeutete, daß ich still sein sollte, denn er wollte ein Nickerchen halten. Ich will hier weg. Ich werde hier verrückt. Warum kannst Du mich nicht einmal ablösen, und sei es nur für ein paar Wochen, dann müßte ich nicht mit dem Gefühl leben, daß ich allein für alles zuständig bin, er ist ja schließlich auch Dein Vater? Ich bin doch nicht auf der Welt, um bis zu seinem Tod seine Krankenschwester zu sein? Ich kann es nicht. Und ich will es nicht …
Sie zerknüllt den Brief und wirft ihn in den Papierkorb. Sie geht zum Flügel, klappt den Deckel auf und beginnt zu spielen. Als sie das Klopfen an der Wand hört, spielt sie weiter, lauter, schneller. Das Klopfen wird zum Hämmern. Ihre Finger schlagen gnadenlos auf die Tasten. Das Hämmern wird zum Dröhnen. Die Tür zum Klavierzimmer fliegt auf. In seinem Rollstuhl donnert er ins Zimmer.
»Hör auf!« schreit er.
Sie spielt weiter.
»Hör sofort auf! Das ist ein Befehl!«
Sie ignoriert es.
Er zerrt an ihrer Bluse und brüllt, daß er im Haus das Kommando hat, daß sie aufhören muss, wenn er es will, daß sie sich nicht so haben soll, daß sie hysterisch ist, daß sie nicht Klavierspielen kann, daß sie nicht glauben soll, er lasse so etwas in seinem Haus zu, daß er das Klavier verkaufen wird.
Mitten im Stück stoppt sie. Sie steht auf und blickt auf ihn herab, ihre Stimme klingt eisig, sie erkennt sich selbst nicht wieder: »Wenn du mich noch ein einziges Mal daran hinderst, daß ich auf meinem Flügel spiele, dann siehst du mich hier nicht mehr wieder.« Sie verläßt das Zimmer, geht in stoischer Ruhe die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, nimmt das Foto, das sie heimlich von Parvat gemacht und in der Schublade neben ihrem Bett versteckt hat, und beginnt still zu weinen.
1963
Bombay
Er kann nicht mehr schlafen, er hat keinen Appetit, er verwechselt die weißen Rosenknospen mit den weißen Rosenblättern und die orangenen mit den rosafarbenen, so daß die Wirkungen andere sind – aus »noch zu jung für die Liebe« wird »Unschuld«, aus »leidenschaftliche Liebe« wird »erste Liebe«. Jede Gelegenheit, die Weberei für eine Weile zu verlassen, packt er beim Schopf, und nach dem Abendessen streift er im Viertel umher und hofft, das Mädchen wiederzusehen. Außerdem läuft er immer wieder die Treppe zu Chandan Chandran hinunter, wenn der damit beschäftigt ist, Pflanzenauszüge zu gewinnen, in denen Kettfäden eingeweicht werden, oder wenn er getrocknete Blütenblätter in einem Stoff mitwebt; Madan hofft, daß Chandrans Tochter vorbeikommt, um ihrem Vater das Mittagessen zu bringen. Die Nächte
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