Warten auf den Monsun
ist es so heiß, daß auch sie ins Haus geflüchtet ist. Sie sitzt in einem Sessel und schaut den Mann an, den sie zu lieben versucht. Über seinem Kopf hängt die Kristallampe mit den roten Steinen. Die funkelnden Rubine streuen kleine, sich bewegende Lichttropfen über sein Gesicht. Die Haare kleben ihm an der Stirn, und er atmet tief und unregelmäßig. Charlotte würde gern in seinen Kopf blicken können, wissen, was er denkt, fühlt und träumt. Sie sind nun ein halbes Jahr verheiratet, und noch immer hat er ihr nichts über die Wunde an seinem Bein und den fehlenden Finger erzählt. Sie weiß, daß er in Manchester geboren ist, in Leeds studiert hat, wieder nach Manchester ging, wo er in einem Armenviertel praktizierte und für seine Abschlußarbeit forschte, daß er nach dem Diplom gleich nach Indien ging, wo er in dem Krankenhaus arbeiten konnte, in dem er auch jetzt angestellt ist, bis der Krieg kam, er eingezogen wurde und nach Birma mußte. Über den Krieg will Peter nicht reden. Das einzige, was sie aus ihm herausgebracht hat, ist, daß er im Dschungel war und daß er nie wieder dorthin zurück will.
Seine Finger bewegen sich im Schlaf, als würde er nach etwas greifen. Charlotte geht zu ihm hin und legt behutsam ihren Handrücken auf seine Stirn. Er erschrickt und bewegt sich noch mehr. Sie zieht schnell die Hand weg. Jetzt beginnen auch seine Füße zu zucken.
»Ganz ruhig, Liebster«, flüstert Charlotte, »ich bin’s.«
Er schreit auf, fährt aus dem Schlaf hoch und sieht sie verstört und keuchend an. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, und er versucht zu schlucken. Sie streichelt ihn sanft. Das Keuchen läßt nach, und ein Ausdruck von Angst überzieht sein Gesicht.
»Hast du etwas Schlimmes geträumt?« Sie wartet wie immer darauf, daß er ihr erzählen wird, was passiert ist. Er weiß nicht, daß sie ihn stundenlang anschaut, wenn er schläft, daß sie sieht, wie er um sich schlägt und tritt, wie er schreit und weint. Charlotte hat vorher noch nie einen Mann weinen gesehen. Sie hat von ihrem Vater gelernt, daß Weinen ein Zeichen von Schwäche ist und daß man in der Gegenwart eines anderen Menschen niemals eine Träne zuläßt.
»Mein Vater ist nächste Woche in Delhi, er kommt uns endlich besuchen.« Sie spürt, wie sich seine Muskeln unter ihrer streichelnden Hand sofort fest anspannen. »Hast du etwas dagegen?« fragt sie erstaunt.
»Aber nein, natürlich nicht«, sagt er und steht auf, um ihrer Berührung auszuweichen.
»Aber wenn du es nicht willst …«
»Warum sollte ich es nicht wollen?«
»Ich dachte.«
»Ach was, natürlich soll er uns besuchen. Wann kommt er?«
»Das hat er nicht geschrieben.« Charlotte sieht Peter an.
Er gießt sich ein Glas Whisky ein und trinkt es in einem Zug aus.
***
Der Tisch ist mit dem Wedgwood-Geschirr gedeckt, das sie als Hochzeitsgeschenk vom Maharadscha bekommen haben, und der Koch hat sein Bestes gegeben. Peter tranchiert das Roastbeaf. Ein gutes Roastbeaf zu finden ist eine Kunst in einem Land, wo kaum Rinder gegessen werden.
»Du mußt das Messer besser schleifen«, sagt Victor.
Peter nickt und schneidet weiter. Die warme Flüssigkeit tritt aus dem Fleisch aus und sammelt sich auf dem Holzbrett.
»Mit so einem Messer machst du es kaputt.«
Charlotte sieht ihren Vater an. Seit er über die Schwelle trat, in Uniform und mit dem Cane unterm Arm, kritisiert er alles, was Peter macht. Ohne aufzusehen schneidet Peter, der seine Alltagskleidung trägt, weiter. Eine unbehagliche Stille tritt ein, und Charlotte sucht nach einem unverfänglichen Gesprächsthema.
»Du warst doch auch in Birma?« sagt ihr Vater unvermittelt.
Charlotte merkt, daß Peter erstarrt. Er versucht weiterzuschneiden, aber das Messer bleibt im Fleisch stecken.
»Bei welcher Einheit hast du eigentlich gedient?«
»Bei der vierzehnten«, murmelt Peter.
»So«, sagt Victor mit einem Blick, der alles bedeuten kann, aber nichts sagt. »Hast du auch den Irrawaddy überquert?«
Charlotte, die genauso interessiert ist wie ihr Vater, sieht ihren Mann an. Aus seinem Gesicht weicht die Farbe, und er starrt mit Angst in den Augen auf das Roastbeef vor ihm. Ganz langsam nickt er.
Der alte Mann blickt forschend ins Gesicht seines Schwiegersohns, den er nach der Begegnung im Hotelzimmer und der Blitzhochzeit nicht mehr gesehen hat. Er ist auf der Suche nach etwas, das er wiedererkennt.
Nun legt Peter das Messer hin, dreht die Hand und zeigt Victor, daß ihm der
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