Warten auf den Monsun
mehr so zauberhaft. Er zeichnete den letzten Strich und griff zur Schere.
Beim Zuschneiden hörte er, daß das Faktotum nach Hause kam. Ohne zu grüßen begann Hema in der Küche mit den Vorbereitungen fürs Abendessen. Das Kohlefeuer wurde angefacht, Wasser in einen Topf gefüllt und aufs Feuer gestellt, es wurde etwas auf einem Brett geschnippelt. Der Geruch von Knoblauch und Koriander drang bis in Madans Zimmer. Nach einer Weile hörte er das Klappern von Tellern und Schüsseln, dann war es in der Küche wieder still. Madan wußte, daß der Diener mit einem Tablett ins große Haus ging. In einer halben Stunde, wenn er die Reste wieder abholte, würde er etwas davon abbekommen.
Alle schliefen, beim Licht der Sterne huschte Madan aus dem Küchenhaus. Ohne ein Geräusch zu machen, hatte er einen Zinkeimer vom Spülstein genommen, mit dem er nun zum Schuppen des Mali ging. An dem außen angebrachten Wasserhahn füllte er ihn. Aus einem Eimer zu trinken, hatte er nie verlernt, aber nun hatte er keinen Durst. Mit dem schwappenden Eimer ging er um den Schuppen herum. Der dürre, vertrocknete Baum war ihm sofort ins Auge gefallen, als er ankam. Er goß den Eimer behutsam am Stamm des Apfelbaums aus. Die durstige Erde saugte das Wasser schnell auf. Wieder füllte er den Eimer. Nun lief er zurück zum Haus, zu den heruntergekommenen Blumenbeeten neben dem Pfad. Mit äußerster Genauigkeit goß er Wasser an die Wurzeln einiger toter Stengel, die aus der Erde ragten. Den nächsten Eimer leerte er bei einem Strauch ganz hinten im Garten, und anschließend wässerte er die Pflanzen vor dem Dienstbotenhaus. Als der Mond aufging, hörte er auf, stellte den Eimer leise wieder auf den Spülstein und zog sich in sein Zimmer zurück.
1936
An Bord der King of Scotland
Das Deck ist leer bis auf einen Ball, der mit den Bewegungen des Schiffes mitrollt. Die Passagiere haben sich im Speisesaal versammelt. Der Kapitän hält einen silbernen Sektkühler in der Hand, in dem die Kärtchen für das Mörderspiel stecken. Die Augen aller richten sich erwartungsvoll auf einen Oberst aus Leeds, der als erster eine Karte zieht. Die anderen im Saal versuchen, von seinem Gesicht abzulesen, ob er der Mörder sein wird oder nicht. Der Oberst wirft einen schnellen Blick auf seine Karte und versucht, ein möglichst harmloses Gesicht zu machen. Es wird gekichert. Charlotte findet es schrecklich, daß die Frau, zu der sie Tante Ilse sagen muß, plötzlich laut auflacht und ruft, daß sie »ganz fürchterlich nervös« sei. Charlotte haßt das Spiel. Zu Hause haben ihre Eltern es auch einmal gespielt, damals hatte sich der Pfarrer im Kinderzimmer unterm Schrank versteckt und gesagt, sie solle so tun, als ob er gar nicht dasei, sie solle einfach ins Bett gehen und schlafen, aber die ganze Zeit hatte er auf Sita geschielt, die schließlich zu ihr ins Bett schlüpfte. Keiner von ihnen hatte sich getraut, etwas zu sagen, aber sie waren sich sicher, daß er der Mörder war.
In der Ecke bei der Tür steht Ganesh, mit Heftpflastern im Gesicht. Sie hat ihn nicht mehr gesehen, seit sie das Spiel mit den Winden gespielt haben, ein viel schöneres Spiel als das hier. Als Tante Ilse ihn erblickt, ruft sie: »Was hat denn der hier zu suchen!« Ganesh senkt den Kopf und verläßt still und leise den Speisesaal. Alle schauen ihm nach. Als die Tür hinter ihm zufällt, zieht die Frau des Obersten ihre Karte und beginnt heftig zu kichern. Tante Ilse fällt laut in das Gelächter ein.
Charlotte rutscht von ihrem Hocker und huscht aus dem Saal. Sie wünscht sich, daß Sita hier wäre. Die hätte sie nie allein auf einem Hocker sitzen lassen. Die wäre, wenn es keiner gesehen hätte, mit ihr übers Deck gerannt, sie hätte sie mitgenommen in die Küche, um leckere Häppchen zu kosten, sie hätte ihr kleine Zöpfe ins Haar geflochten und kandierten Ingwer aus ihrem Sari hervorgezaubert.
Auf dem Deck, ganz hinten, findet sie ihn. Er späht aufs Meer hinaus und scheint nichts zu sehen und zu hören. Sie stellt sich neben Ganesh und nimmt seine Hand. »Du, ich spiele gern mit dir.«
1946
Grand Palace
Ihre Schritte klingen hohl in dem großen Saal aus Marmor. Am Plafond hängen im Abstand von zehn Metern gigantische Kronleuchter aus Kristall, und an den Wänden hängen meterhohe Porträts der Ahnen, die Säbel in den Händen halten und mit Edelsteinen bestickte Turbane tragen. Charlotte bleibt vor dem Bildnis eines kleinen Jungen stehen. Er
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