Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Norden zu;
Oh, dürfte ich euch begleiten;
Aber mein Stand läßt selbiges nicht zu.
Fährst du mit meinem lieben Mädchen
An dem ein oder ändern Schiff vorbei;
Dann ruft jeder Seemann sofort:
Das schönste Mädchen fährt auf dem IJ.«
»So trat ich dann ein neues Jahr voller Leiden an« - und darauf folgt noch ein Jahr und noch ein Jahr. Selbst die Goldene Hochzeit seiner Eltern kann seine Gedanken nicht von seiner unerreichbaren Geliebten ablenken. 1827, sechs Jahre, nachdem er Lina zum ersten Mal sah, hat sich an seinen Gefühlen nichts verändert, aber an seinen Aussichten ebensowenig. Seine Verzweiflung nimmt noch zu, als er hört, daß sie am Tag nach ihrer Ankunft ihres jährlichen Besuchs in Haarlem von einem Blutsturz heimgesucht wurde. Van den Hull ist völlig aufgelöst: vielleicht wird sie bald sterben? (»Eine Folge vielleicht ihres endlosen Leidens um mich?«) Er fastet drei Tage lang, fleht und betet, läuft an ihrem Haus vorbei, stellt sich schon vor, wie sie in einem schwach beleuchteten Zimmer mit dem Tod kämpft (»Wird sie sterben mit meinem Namen auf den Lippen?«) - und sieht sie wenige Tage später in vollkommener Gesundheit durch die Stadt laufen. Er ist dankbar, daß sein Gebet so schnell erhört wurde, aber auch verzweifelt, daß er sie wieder ziehen lassen muß, ohne sie getroffen zu haben. Erneut geht ein Jahr vorüber, genau wie das Jahr darauf, »unter tausend Tränen und Seufzern«.
In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 1830 träumt er, daß er einen Spaziergang über Haarlems Bollwerk macht und sich an einer der schönsten Stellen niederläßt, um die Aussicht auf die Dünen zu genießen. Aus dem Nichts erscheint ein Mann, »eine hochadelige Person«, der sich ohne ein Wort oder auch nur einen Gruß neben ihn setzt, sich gegen ihn lehnt und ihn schließlich sogar von seinem Platz vertreibt. Empört fordert Van den Hull seinen Platz zurück: er saß als erster dort. Zu seinem Erstaunen verwandelt sich der Fremde plötzlich in einen höchst wohlanständigen Mann, der sich entschuldigt, sagt, nicht gewußt zu haben, daß er schon so lange dort saß, und schnell für ihn aufsteht und sich wieder entfernt. Als Van den Hull wach wird, steht ihm der Traum noch klar vor Augen, auch wenn er keine Ahnung hat, was er bedeuten soll. Am selben Morgen kommt einer seiner Schüler zu Besuch und erzählt, daß Komteß De Vos in Haarlem zu Besuch gewesen, aber auch schon wieder abgereist sei. In einem Atemzug fügt er hinzu, daß sie sich mit Junker Van der Wyck aus Assen verlobt habe.
»Ich werde dem Leser nicht sagen müssen, was ich nunmehr empfand! Ihn nicht langweilen mit einer Beschreibung meiner Bewegtheit! Wie mir diese Nachricht durch Mark und Bein drang! Wie mir der Schweiß der Verzweiflung vom Gesicht strömte! Wie schwer es mir fiel, mich in Gegenwart meiner Mutter und Schwester zusammenzunehmen! Wie ich, sobald ich den Knaben hinausbegleitet hatte, in mein Zimmer flog: die Tür hinter mir abschloß, auf Knie und Angesicht fiel und zu Gott wie ein Verzweifelter schrie: Herr, dankst du es mir so, daß ich auf dich vertraute?«
Als er wieder zu sich gekommen ist, erinnert er sich an seinen Traum von dieser Nacht. Plötzlich wird alles klar. Die Stelle mit der schönen Aussicht ist Linas Herz. Der adelige Wanderer ist sein Rivale, der ihn mit Gewalt von seinem Platz verstoßen hat. Aber als der Eindringling vernimmt, daß der andere das erste Recht hat, entschuldigt er sich bescheiden und zieht wieder ab. Mit anderen Worten, Van den Hull hat noch Hoffnung: vielleicht wird Gott diesen Van der Wyck noch aus Linas Herz vertreiben und die geplante Hochzeit verhindern. So schwebt er noch ein weiteres Jahr zwischen Hoffnung und Furcht, bis er in der Haarlemmer Courant vom 30. April 1831 - »mit der schrecklichsten Bewegtheit« -ihre Hochzeitsanzeige entdeckt. Erst dann weiß er sicher, daß Lina nie die Seine werden wird. Er verflucht den Tag, an dem er sie auf der Nieuwe Gracht hat laufen sehen.
Für denjenigen, der verliebt ist und in der Unsicherheit verkehrt, ob diese Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen, hat alles, was der andere tut oder nicht tut, Bedeutung. So etwas wie eine beiläufige Geste oder eine lockere Bemerkung existiert eine Zeitlang nicht mehr, denn alles, was sie sagt und wie sie es sagt und in welchem Moment sie es sagt, kann einen Hinweis enthalten und muß daher sorgfältig untersucht und geprüft werden. All diese Hinweise zusammengenommen fügen sich
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