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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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schließlich zu einer Überzeugung: Ja, sie ist auch verliebt, nein, sie ist es nicht. Aber es gibt auch so intensive Verliebtheiten, daß umgekehrt die Überzeugung den Hinweisen Bedeutung verleiht. Das sind die Fälle, in denen jemand buchstäblich für zwei verliebt ist und alles, was der andere sagt oder tut, trägt zum unumstößlichen Beweis einer gegenseitigen Verliebtheit bei. Natürlich kann sich später heraussteilen, daß sich der Verliebte geirrt hat. Er hat die Zeichen nicht richtig verstanden. Er hat in dem anderen nur sich selbst gesehen. Von dem Moment an, da ihm bewußt wird, welches die wahren Gefühle des anderen waren, kommt in seinem Gedächtnis etwas in Bewegung, das für einige schmerzliche Wochen oder Monate sorgt. All die Erinnerungen, die in einer warmen Glut der Verliebtheit gespeichert worden waren, kommen wieder zum Vorschein, als wären sie aus dem Gedächtnis verjagt worden. Sie müssen Stück für Stück erneut überdacht werden: »Als sie damals ... meinte sie gar nicht ...« Es scheint, als dürften sie erst wieder zurück, wenn sie mit einer neuen Bedeutung versehen sind. Für denjenigen, der glaubt, Erinnerungen seien sicher und unantastbar gespeichert, sobald sie erst einmal da sind, ist nichts lehrreicher als eine unerwiderte Liebe.
    Hinweise hatte Van den Hull sehr wenige, auch wenn er damit viel tat. Daß Lina errötete, als er sie so eindringlich ansah, daß sie unregelmäßig atmete, als sie neben ihm in der Kirche saß, daß sie ihre Abreise nach diesem Gottesdienst um ein paar Tage verschob, zweifelsohne, weil die Predigt sie genauso ergriffen hatte wie ihn, dies alles nahm ihrer Verliebtheit jeglichen Zweifel. Für Van den Hull hatte es von Anfang an auf der Nieuwe Gracht zwei Verliebte gegeben. Als er 35 Jahre später an seiner Autobiographie schreibt, kann er diese Verliebtheit auch noch so rekonstruieren, daß spätere Einsichten auch noch keinen Einfluß darauf nehmen können. Der Leser schaut besorgt zu, wie ein verliebtes Herz jegliches Realitätsbewußtsein verliert, wie Van den Hull seine eigenen Gefühle in denen Linas sieht und so schon ins Projizieren gerät, noch lange bevor Freud auch nur geboren ist, wie ein Mädchen, das selbst von nichts gewußt haben dürfte, das Leben eines Mannes mittleren Alters völlig durcheinanderbringt.
    In einem Rückblick auf diese Episode, geschrieben, als er in den Siebzigern war, läßt Van der Hull merken, daß er die Jahre mit Lina inzwischen anders sieht. Denn warum hatte Gott ihn eigentlich so leiden lassen? Wenn ihm die Vorsehung Lina nicht hatte schenken wollen, hätte er ihre Begegnung doch einfach verhindern können: »Wäre ich nur fünf Minuten früher oder später auf diesem Weg gekommen, hätte ich Lina nie gesehen, und ein elfjähriges schreckliches - schier hoffnungsloses - Leiden wäre mir erspart geblieben.« Hatte Gott mit diesem Leiden vielleicht nicht gerade etwas beabsichtigt? Je länger er über diese Möglichkeit nachdachte, desto wahrscheinlicher schien sie ihm. Sein Leiden mußte eine Vergeltung sein, und schnell bekommt der Leser auch zu hören, wofür.
    »Ich war ein schöner Jüngling« - Van den Hull findet, daß er dies in seinem jetzigen Alter durchaus sagen darf. Eine weiße Haut, kastanienbraune Haare, rosiges Gesicht, gut geformte Gliedmaßen, das schönste Kind seiner Eltern. Außerdem veränderte sich sein Außeres so wenig, daß man ihn mit sechzig Jahren nicht älter als vierzig schätzte. Daß er »so wie man solches im täglichen Sprachgebrauch nennt, ein schöner Junge war«, wußte er selbst nicht, darauf hatten ihn andere hingewiesen. Unter den Damen, denen er Unterricht gab, hatte es auch ein paar gegeben, die ihm »Gelegenheit zur Unkeuschheit« geboten hatten. Er hatte der Versuchung immer zu widerstehen gewußt, war aber dennoch »einmal mit 26 Jahren bei einer Verlockung dieser Art schwach geworden«. Das war einstweilen eine erste Sünde. Als er unverheiratet blieb und weiterhin die Aufmerksamkeit von Frauen auf sich zog, begann das seiner Eitelkeit zu schmeicheln. Er war stolz, wenn sich eines der Mädchen aus angesehenen Familien in ihn verliebte und unter seinem Blick errötete. Es bereitete ihm sogar Vergnügen - eine zweite Sünde diese Verliebtheit noch ein wenig anzufachen, »nicht bedenkend, wieviel Seelenleid ich auf diese Weise verursachte, da doch bei einem empfindsamen Mädchen solch eine Leidenschaft nicht selten in unheilbares Siechtum übergeht und manch eine

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