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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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allmählich errötete, während ich selbst ergriffen war, ohne mir Rechenschaft über dieses plötzliche Gefühl ablegen zu können: ich grüßte sie; unsere Augen begegneten einander, und ihr Anblick drang mir durch Mark und Bein. Himmel, sagte ich zu mir selbst, was ist das für ein wunderschönes Mädchen! O möge diese meine Gemahlin werden!«
    Er ist wie vom Blitz getroffen. Auf der Jansbrug dreht er sich noch einmal um und sieht, daß sie das Haus von Pfarrer Serrurier betritt. Abends bittet er einen seiner Schüler, einen Neffen Serruiriers, sich diskret bei den Dienstboten zu erkundigen, wer dieses »himmlische Mädchen« sei. Es stellt sich heraus, daß es sich um Komteß Roelina (Lina) de Vos van Steen-wijk tot den Havixhorst handelt, sie wohnt bei Frau Camerling. Diese Antwort beruhigt ihn nicht. Er ist Sohn eines einfachen Bürgers, ein ehemaliger Unterlehrer, sie entstammt einem der adeligsten Geschlechter des Landes, der Abstand zwischen ihnen ist »einer der unermeßlichsten, der sich denken läßt«. Außerdem ist er über vierzig und sie, schätzt er, höchstens 18. Aber diese Begegnung, genau an diesem Tag, das mußte doch ein Zeichen Gottes sein. Am nächsten Tag trifft er sie in der Wallonischen Kirche wieder. Er sitzt auf seinem festen Platz, Lina hat sich zu ihren Freundinnen gesetzt, passenderweise dicht neben ihn, zwischen ihnen beiden »ein Raum von kaum drei Fuß«. Er sieht sie von der Seite, und aus dem »unregelmäßigen Schwellen ihres Busens« schließt er, daß sie ebenso angetan ist wie er selbst, stärker noch, daß seine Liebe für sie auch ihre Liebe für ihn erweckt hat.
    Rückseite der »Französischen Schule« von Willem van den Hull an der St. Jansstraat in Haarlem. Zeichnung Gerrit Schölten, 1822.

    Mehr Ermutigungen gab es nicht, mehr brauchte er auch nicht. Er besticht einen Kutscher, der ihm zuflüstert, daß Lina am folgenden Sonntagmittag wieder abreist, und zwar nach Amsterdam. Van den Hull bestellt für denselben Zeitpunkt eine Kutsche, packt seine Wäsche und Geld ein und hofft, Lina dann dazu bewegen zu können, in seine Kutsche zu steigen und ihn heimlich zu heiraten.
    Es ist ein dreister Plan, aber er war nun einmal, so wie er hierauf zurückschaut, keiner Vernunft mehr zugänglich: »Ich sah im ganzen Weltall niemand anderen als Lina; sie allein schwebte mir vor dem Geist, und mein Beten zu Gott war nur ein verzweifeltes Wimmern.« Als der Sonntag ihrer Abreise anbricht, besucht er erst noch einen Gottesdienst, an dem sie auch teilnimmt. Noch während des Dienstes wird es Van den Hull klar, daß er von seinem Plan absehen muß. Pfarrer Serrurier predigt nämlich über das Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren.« Er sitzt wie versteinert in seiner Bank: die Predigt paßt so genau, »daß, wenn jemand dem Prediger eingeflüstert hätte: >Es sollen sich unter eurer Zuhörerschaft zwei Verliebte befinden, die beabsichtigen, einen ruchlosen Plan auszuführen: sprich zu ihnen!< er keine passendere Predigt hätte vortragen können, um sie von ihrem gefährlichen Plan abzuhalten.« Er sagt die Kutsche doch wieder ab.
    Daß Van den Hull in der Kirche zwei Verliebte zählte, zeigt schon seine Überzeugung, daß Lina seine Liebe beantwortet. Aber er wagt es nicht, sich ihr zu nähern, ihr zu schreiben ebensowenig, schließlich ist die Möglichkeit viel zu groß, daß sie, ausgelöst durch die Predigt des Pfarrers Serrurier, nichts gegen den Willen ihrer Eltern unternehmen und demnach sicherlich keine Ehe mit einem Unbekannten eingehen wird. Er hat keinen einzigen Ausweg für seine Gefühle. Seine Eltern und Schwestern kann er nicht ins Vertrauen ziehen, seine Unterlehrer auch nicht, er muß alles in Stille und Einsamkeit verarbeiten. Erleichterung findet er nur vorübergehend in langen Gedichten, die an Lina gerichtet sind. Er schickt sie nicht ab. Keinen Augenblick verschwindet sie aus seinen Gedanken: kaum ist er morgens wach, »ergriff mich die schrecklichste Angst, und ich schlief sozusagen wimmernd wieder ein«. So vergeht ein ganzes Jahr. Im nächsten Sommer kommt sie wieder zu Besuch, er sieht sie erneut vorbeilaufen, aber auch nun wagt er es nicht, sich ihr zu nähern, und sie reist wieder ab. Diesmal reist sie mit einem Linienschiff nach Zwolle, hat er gehört, und in einem Gedicht begleitet er sie in Gedanken auf der Rückreise. Zwei der zwanzig Strophen reichen aus, um sich einen Eindruck zu verschaffen:
    »Gute Reise, anmutiges Mädchen,
    Gute Reise auf den

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