Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Ereignisse in seinem Leben kann er exakt datieren. Aber der Stil ist nicht der eines abgeschriebenen und zusammengefaßten Tagebuchs. Van den Hull folgt seinen Assoziationen, stellt Themen heraus, entwickelt Erzählstränge. Es ist auch ein aufrichtiger Bericht, manchmal sogar ergreifend. Er wagt es, über Mißerfolge und Rückschläge, die Momente von Demütigungen, Scham, Bedauern und Reue zu schreiben. Van den Hull war ein sensibler, schnell gekränkter Mann, dem die Verbindung in seinem Leben entging, die er sich so inständig wünschte. Am Ende kann man seine Memoiren nicht ohne eine gewisse Zuneigung für ihn zuklappen.
Alle Verfasser von Biographien berufen sich auf ihr Gedächtnis, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Manche Autobiographien werden zum Teil aus externem Material dokumentiert: Protokolle, Berichte, Briefe, Notizen, Reden; sie können mit Hilfe von Sekretären geschrieben werden, wie Churchills Memoiren. Zur
Autobiographie von Van den Hull hätte ein Sekretär nichts Bedeutendes beitragen können; er hat sein Leben wirklich aus persönlichen Erinnerungen heraus beschrieben. Das heißt auch, daß die Eigenschaften des autobiographischen Gedächtnisses um so schärfer darin zu erkennen sind. Es handelt sich um eine Autobiographie, die über die ersten drei, vier Jahre nicht viel zu berichten hat, die charakteristische erste Erinnerungen enthält und so weiter im Verlauf des Lebens zugleich die Entwicklung des Gedächtnisses durch Jugend, Erwachsensein und Alter wiedergibt. Es ist auch die Autobiographie eines älteren Verfassers. Das ist der Struktur seiner Lebensgeschichte anzumerken. Diese spiegelt nämlich eine Eigenart des autobiographischen Gedächtnisses wider, die mit dem Alter verbunden ist und erst vor kurzem in experimentellen Studien näher untersucht wurde.
Der Reminiszenzeffekt
Francis Galton hatte in seinen Experimenten aus dem Jahre 1879 schon gemerkt, daß viele seiner Assoziationen in seine Jugend zurückreichten, im Verhältnis sogar mehr als in noch nicht lang zurückliegende Jahre. Die Technik, die er damals anwandte, ist der Kern dessen, was heute >Galton cuing technique< heißt: eine Liste von Wörtern, die geeignet sind, Erinnerungen aufzurufen. Die Wörter sind so gewählt, daß sie mit jedem Lebensabschnitt in Verbindung gebracht werden können. Ein Wort wie >Examen< ist demnach nicht geeignet, denn im Alter von vierzig Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, daß man gerade ein Examen abgelegt hat, doch kleiner, als wenn man um die zwanzig ist. Wörter wie >Um-zug< und >Sturz von der Treppe< dagegen kommen schon in Frage. Die Versuchsperson wird gebeten, eine Erinnerung zu erzählen, die sie mit dem vorgelegten Wort assoziiert. Danach versucht man, die Erinnerung so genau wie möglich zu datieren. Global gesprochen scheinen die meisten Erinnerungen durch jüngere Ereignisse ausgelöst zu werden, der letzte Umzug, das letzte Mal, daß man von der Treppe fiel. In einem Histogramm, in dem vertikal die Anzahl oder der prozentuale Anteil der Erinnerungen und horizontal das Alter eingetragen sind, werden die Säulen nach rechts hin größer, die höchste von ihnen steht im Zeitraum kurz vor der Untersuchung. Das ist tatsächlich auch die übliche Ver-gessenskurve, die auch für so viele andere Formen von Erinnern und Vergessen gilt: zu Anfang steil abfallend, danach sich abschwächend. Aber dasselbe Experiment mit älteren Versuchspersonen durchgeführt ergibt eine bemerkenswerte Beobachtung. In dem Teil, der bei Versuchspersonen mittleren Alters abflacht, werden bei Alteren die Säulen gerade wieder höher. An der linken Seite auf der Zeitachse entsteht eine Schwellung, die sich zu einem deutlich sichtbaren Höcker entwickelt, in der englischen Literatur als >reminiscence bump< bekannt. Die genaue Position dieses Höckers variiert ein bißchen je nach Studie, aber es zeigt sich eine deutliche Häu-
fung von Erinnerungen aus einer Periode, die so ungefähr zehn Jahre umfaßt und deren Zentrum um das zwanzigste Lebensjahr herum liegt. Der Höcker wird noch umfänglicher, wenn Versuchspersonen nicht auf Wörter reagieren, sondern gebeten werden, drei oder vier ihrer lebendigsten Erinnerungen zu beschreiben. In diesem Fall ist die Säule gerade bei der jüngsten Erinnerung am kürzesten, und man hat den heftigsten Ausschlag etwa beim fünfzehnten Lebensjahr. Der Reminiszenzeffekt zeigt sich bei Versuchspersonen ab etwa sechzig und wird mit den Jahren markanter.
Histogramm der
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