Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
wundersamerweise nicht auf. Er sieht sich um und beäugt mich misstrauisch. Ich reiße die Augen auf und versuche, ihn streng anzusehen.
Nach etwa zehn Minuten gibt es Leo auf davonzurennen. Er scheint das Tor vergessen zu haben und spielt mit Tina, Joey und Bean im Sandkasten. Bald plaudern Frédérique und ich angeregt und haben die Beine hochgelegt.
Ich kann kaum glauben, dass Leo mich plötzlich als Autoritätsperson wahrnimmt.
»Siehst du!«, sagt Frédérique ohne jede Überheblichkeit. »Es war dein Tonfall.«
Sie weist darauf hin, dass Leo deshalb keinen traumatisierten Eindruck macht. Im Moment – ja vielleicht sogar zum allerersten Mal – benimmt er sich wie ein französisches Kind. Jetzt, wo alle meine drei Kinder plötzlich sage sind, kann ich mich im Park endlich ein bisschen entspannen. Das ist eine bisher unbekannte Erfahrung für mich. Fühlt es sich so an, eine französische Mutter zu sein?
Ich bin erleichtert, komme mir aber auch ein bisschen dämlich vor. Wenn es so einfach ist, warum mache ich das dann nicht schon seit Jahren so? Nein sagen ist nicht gerade eine avantgardistische Erziehungstechnik. Neu ist, dass Frédérique mir beigebracht hat, meine Zwiespältigkeit abzulegen und meine eigene Autorität zu akzeptieren. Sie selbst weiß das instinktiv, weil sie selbst so erzogen wurde. Aus ihrem Mund hört es sich an wie gesunder Menschenverstand.
Frédérique ist auch fest davon überzeugt, dass das, was Eltern guttut – nämlich entspannt im Park sitzen und zu plaudern, während die Kinder spielen –, auch für die Kinder das Beste ist. Sie scheint damit Recht zu haben. Leo ist deutlich weniger gestresst als noch vor einer halben Stunde. Statt in einem Teufelskreis aus Davonlaufen und Eingefangenwerden festzustecken, spielt er zufrieden mit den anderen Kindern.
Am liebsten würde ich diese neue Technik – das tief empfundene, selbstbewusste Nein – in Flaschen abfüllen und teuer verkaufen. Aber Frédérique warnt mich und sagt, es gäbe keinen Zaubertrank, der dafür sorgt, dass die Kinder die Autorität der Eltern akzeptieren. Das müsse immer wieder neu erarbeitet werden. »Es gibt kein Patentrezept«, sagt sie. »Du musst situationsbedingt reagieren.«
Und was sonst erklärt, warum französische Eltern eine solche Autorität gegenüber ihren Kindern besitzen? Woher nehmen sie die Tag für Tag, Abendessen für Abendessen? Und wie kann ich mir mehr davon aneignen?
Wenn ich mich für Autorität interessiere, sagt mir eine französische Kollegin, müsse ich mit ihrer Cousine Dominique reden. Dominique, eine französische Sängerin, die drei Kinder in New York großzieht, sei eine heimliche Expertin, was die Unterschiede zwischen französischen und amerikanischen Eltern angehe.
Dominique ist 43 und sieht aus wie die Hauptdarstellerin eines Nouvelle vague -Films. Sie hat dunkle Haare, feine Züge und einen intensiven Gazellenblick. Wäre ich dünner, schöner und könnte singen, könnte man sagen, dass wir gewissermaßen das Spiegelbild der jeweils anderen sind: Sie ist Pariserin und zieht ihre Kinder in New York groß, während ich als New Yorkerin meine Kinder in Paris großziehe. Mein Leben in Frankreich hat mich gelassener und weniger neurotisch gemacht, während Dominique trotz ihres guten Aussehens gelernt hat, sich so wortreich infrage zu stellen, wie man das in Manhattan eben so macht. Sie spricht ein lebhaftes Englisch mit französischem Akzent, wobei sie dauernd like und oh my God sagt.
Dominique kam als 21-jährige Studentin nach New York. Sie wollte ein halbes Jahr Englisch lernen und dann in die Heimat zurückkehren. Aber New York wurde ihr schnell zur zweiten Heimat. »Ich fühlte mich wirklich toll und inspiriert, hatte eine Unmenge von Energie – etwas, das ich in Paris schon lange nicht mehr erlebt hatte«, so Dominique. Schließlich heiratete sie einen amerikanischen Musiker.
Als sie das erste Mal schwanger war, war Dominique noch von den amerikanischen Erziehungsmethoden begeistert. »Es gibt ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das in Frankreich so nicht existiert … Wenn man Yoga mag und schwanger ist, geht man einfach in eine Yoga-Gruppe für Schwangere.«
Dominique fiel auch auf, wie viel Aufmerksamkeit Kinder in den Vereinigten Staaten bekommen. Bei einem großen Thanksgiving-Dinner bei der Familie ihres Mannes staunte sie, dass beim Eintreffen einer Dreijährigen alle zwanzig Erwachsenen am Tisch aufhörten zu reden und sich ganz auf das Kind
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