Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Autorität ausüben können. Ich merke, wie aufmerksam seine Kinder zuhören, wenn er das Wort an sie richtet, und wie sie sofort auf ihn hören.
Laut Marc war der Arzt nicht übertrieben streng. Im Gegenteil, er habe bei Adriens éducation geholfen. Marc erinnert sich ganz anders an den Vorfall:
»Er hat gesagt, dass du dir deiner Sache sicher sein und dass du dein Kind nehmen und es auf die Waage stellen solltest. Gibst du deinem Kind zu viele Wahlmöglichkeiten, fühlt es sich verunsichert … Du musst ihm zeigen, wie das funktioniert. Und dass es keine gute oder weniger gute Art gibt, das zu tun, sondern nur eine einzige. Das ist eine ganz simple, aber unabdingbare Erkenntnis«, so Marc. »Manche Dinge muss man nicht erklären. Das Kind muss gewogen werden, also stellt man es auf die Waage, und damit basta!«
Dass Adrien die Erfahrung unangenehm fand, sei Teil der Lektion gewesen. »Es gibt Dinge im Leben, die einem nicht gefallen, aber man muss sie trotzdem tun. Man kann nicht immer nur das tun, was man mag oder möchte.«
Als ich Marc frage, wie er zu dieser Autorität gekommen sei, wird deutlich, dass auch er sie nicht so mühelos ausübt, wie gedacht. Er hat sich sehr bemüht, so eine Beziehung zu seinen Kindern aufzubauen. Über seine Autorität macht er sich viele Gedanken, gleichzeitig ist sie für ihn oberste Priorität. Alle seine Bemühungen speisen sich aus der Überzeugung, dass selbstbewusste Eltern eine beruhigende Wirkung auf das Kind haben.
»Ich finde es angenehm, einen Anführer zu haben, jemanden, der mir zeigt, wo es langgeht«, so Marc. »Ein Kind sollte das Gefühl haben, dass seine Mutter oder sein Vater alles unter Kontrolle hat.«
»Das ist so ähnlich wie beim Reiten«, mischt sich der inzwischen neunjährige Adrien ein.
»Ein guter Vergleich!«, lobt ihn Robynne.
Marc fügt noch hinzu: »Wir Franzosen haben da ein Sprichwort: Es ist einfacher, eine Schraube zu lockern, als sie festzuziehen. Mit andern Worten, man muss energisch vorgehen. Geht man zu energisch vor, kann man ja immer noch etwas nachgeben. Aber ist man von Anfang an zu nachgiebig, hilft alles Nachbessern nichts.«
Marc beschreibt den cadre , den französische Eltern in den ersten Lebensjahren ihres Kinders installieren. Manchmal auch, indem sie einfach auf ihre Rechte pochen und sagen: »Keine Diskussion, geh auf die Waage!«
Amerikanische Eltern wie ich gehen davon aus, dass sie den ganzen Nachmittag im Park hinter ihren Kindern herlaufen oder das halbe Abendessen damit verbringen müssen, sie ins Bett zu kriegen. Das ist nervig, scheint für uns aber normal zu sein.
Französische Eltern empfinden ein so außer Rand und Band geratenes Kind als Belastung für die ganze Familie. Sie glauben, dass dadurch der gesamte Alltag beschwerlich wird – sowohl für die Eltern als auch für das Kind. Sie wissen, welch enorme Anstrengungen es kostet, den cadre zu installieren, aber für sie gibt es dazu keine Alternative, denn sie wissen, dass es sich lohnt. Es ist der cadre , der verhindert, dass französische Eltern ihre Kinder zwei Stunden lang ins Bett bringen müssen.
»In Amerika wird akzeptiert, dass man mit Kindern nicht frei über seine Zeit verfügen kann«, so Marc. Seiner Meinung nach müssen Kinder jedoch verstehen, dass sie nicht der Nabel der Welt sind und dass sich nicht nur alles um sie dreht.
Wie installieren französische Eltern diesen cadre ? Es kann ziemlich mühsam sein, bis der endlich steht. Denn es geht nicht nur darum, Nein zu sagen und zu bestimmen. Eine Methode, den cadre durchzusetzen, besteht auch darin, viel darüber zu reden. Französische Eltern verbringen viel Zeit damit, ihren Kindern zu erklären, was erlaubt ist und was nicht. All das lässt den cadre automatisch im Alltag konkrete Gestalt annehmen. Er bekommt dadurch eine fast physische Präsenz, wie eine Wand, die man mit guter Pantomime entstehen lassen kann.
Die vielen Gespräche über den cadre verlaufen dabei durchaus respektvoll und höflich. Französische Eltern sagen sehr oft »bitte«, auch zu Säuglingen. (Ihre Überzeugung: Babys verdienen es, dass man höflich zu ihnen ist, schließlich verstehen sie, was gesagt wird.) Wenn es darum geht, Kindern Grenzen zu setzen, wird viel über Recht und Unrecht gesprochen. Statt zu sagen »Hör auf, Jules zu schlagen!«, heißt es: »Du darfst Jules nicht schlagen.« Das ist mehr als nur ein semantischer Unterschied: Es fühlt sich auch anders an, das zu sagen und zu hören. Die
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