Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
verhandeln müssen. Einen Vorgeschmack darauf bekomme ich, als Bean ungefähr drei ist. Unsere neue Regel lautet, dass sie eine Dreiviertelstunde am Tag fernsehen darf. Eines Tages möchte sie ein bisschen länger fernsehen.
»Nein. Deine Fernsehzeit für heute ist um«, sage ich.
»Aber als ich noch ein Baby war, habe ich ja überhaupt nicht ferngesehen«, erwidert Bean.
Genau wie wir setzen die meisten angloamerikanischen Eltern aus meinem Bekanntenkreis irgendwo Grenzen. Aber da so viele verschiedene Erziehungsstile existieren, gibt es auch Eltern, die jegliche Autorität ablehnen. Bei einem meiner Besuche in den Vereinigten Staaten treffe ich ein solches Elternpaar.
Liz ist Grafikdesignerin und Mitte dreißig, sie hat eine fünf Jahre alte Tochter namens Ruby. Wenn sich Ruby aufführt, versuchen Liz und ihr Mann das Mädchen davon zu überzeugen, dass es moralisch im Unrecht ist. »Wir wollen unerwünschtes Verhalten ausmerzen, ohne auf Machtspielchen zurückzugreifen«, so Liz. »Ich will nicht ausnutzen, dass ich größer und stärker bin als Ruby, indem ich sie festhalte. Und ich versuche auch nicht, mich darauf zu berufen, dass ich finanziell am längeren Hebel sitze, indem ich sage, ›Du darfst das und das haben, aber das nicht‹.«
Mich rühren Liz’ Bemühungen, eine ganz eigene Erziehungsphilosophie zu entwickeln. Sie hat nicht einfach irgendwelche Regeln übernommen, sondern sich intensiv mit bestimmten Denkern beschäftigt und das übernommen, was sie für richtig hält. Ihr individueller Erziehungsstil sei ganz anders als der, nach dem sie selbst erzogen worden sei, so Liz.
Aber er habe auch seine Nachteile. Ihr unorthodoxer Stil habe sie nicht nur von vielen Nachbarn und Gleichaltrigen isoliert, sondern auch von ihren eigenen Eltern. Ihre Eltern stünden der Art, wie sie Ruby erzieht, sehr ablehnend gegenüber. Die Kluft zwischen ihnen sei so groß, dass jede Diskussion darüber unmöglich sei. Besuche zu Hause seien mit viel Stress verbunden, vor allem wenn Ruby sich aufführe.
Trotzdem sind Liz und ihr Mann weiterhin fest entschlossen, keine Autorität an den Tag zu legen. Seit Kurzem schlägt Ruby ihre Eltern. Jedes Mal setzen sie sich geduldig mit ihr hin und erklären ihr, warum das falsch ist. Diese gut gemeinten Erklärungen bleiben jedoch folgenlos.
Im Vergleich dazu fühlt sich Frankreich an wie ein anderer Planet: Selbst die größten Bohemiens brüsten sich damit, wie streng sie ihren Kindern gegenüber sind und dass kein Zweifel daran besteht, wer bei ihnen in der Familie das Sagen hat. In einem Land, das die Revolution und den Sturm auf die Barrikaden feiert, scheint für Anarchisten kein Platz am Familientisch zu sein.
»Es ist paradox«, gibt Judith, die dreifache Mutter und Kunsthistorikerin aus der Bretagne, zu. Judith bezeichnet sich als »antiautoritär«, wenn es um Politik geht, aber in puncto Erziehung hat sie das Sagen, Punkt! »Erst kommen die Eltern und dann die Kinder«, erklärt sie die innerfamiliäre Hierarchie. »Dass man Macht an die Kinder abgibt, ist in Frankreich undenkbar.«
In den französischen Medien und in der älteren Generation ist jedoch auch schon die Rede davon, dass das enfant-roi -Syndrom in Frankreich immer mehr einreißt. Aber wenn ich mit Pariser Eltern spreche, höre ich nur: »C’est moi qui décide!« – (»Ich bestimme!«) Es gibt auch noch eine militantere Variante: »C’est moi qui commande!« (»Ich habe hier das Sagen!«). Eltern verkünden das, um sowohl ihre Kinder als auch sich selbst daran zu erinnern, wer hier der Chef ist.
Amerikanern kommt diese Hierarchie wie Tyrannei vor. Robynne ist Amerikanerin und lebt seit Kurzem in Paris. Sie hat einen französischen Ehemann und zwei Kinder, Adrien und Lea. Während eines Familienessens erzählt sie mir, wie sie mit Adrien, als er noch ein Kleinkind war, beim Kinderarzt war: Adrien weinte und weigerte sich, auf die Waage zu gehen, also kniete sich Robynne neben ihn, um ihn dazu zu überreden.
Der Arzt unterbrach sie. »Erklären Sie ihm nicht lange, warum. Sagen Sie einfach: ›Du steigst jetzt auf diese Waage, keine Diskussion!‹« Robynne war schockiert. Sie sagt, sie habe letztlich den Kinderarzt gewechselt, weil der ihr zu streng gewesen sei.
Robynnes Mann Marc hört sich diese Geschichte ebenfalls an. »Nein, nein, so hat er das nicht gesagt!«, wirft er ein. Marc ist Profigolfer und in Paris aufgewachsen. Er gehört zu den Franzosen mit Kindern, die scheinbar mühelos
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