Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Modebegriffen. Wilhelm Dilthey brachte Erlebnis und Dichtung in enge Verbindung; sein Konzept des Lebens und ‹Er-lebens› sollte ‹verstehende Geisteswissenschaft› objektiv begründen.
Religiöse Erfahrungen, als ‹Erlebnis› interpretiert, verlieren ihre inhaltliche Bestimmtheit. Die ältere germanistische Eckhartforschung erging sich im ‹mystischen Erlebnis›. Lutherforscher ergründeten sein ‹Turmerlebnis›. Kollektivistische, besonders völkische Bewegungen stilisierten Leben als Erleben und suchten Gemeinschaftserlebnis. Der Erlebnisbegriff wurde für rationale Diskussionen zunehmend unbrauchbar. Noch in seiner edelsten Verwendung litt er unter den theoretischen Schwächen der Lebensphilosophie. Selbst wer dem ‹Erlebnis› kognitive Möglichkeiten zugesteht, argumentiert damit nicht inhaltlich für eine bestimmte Einsicht oder Entscheidung. Die Fronleichnamsprozession in München und Hitlers Parteitage in Nürnberg produzierten gleichermaßen ‹Erlebnisse›. Es gibt Spezialisten, die wissen, wie man sie herstellt. Wer sich auf den Erlebnischarakter beruft, verläßt den Boden allgemeiner Vernunft. Und damit meine ich nicht das, worin die Mehrheit übereinstimmt. Unter ‹allgemeiner Vernunft› verstehe ich auch nicht die anerkannte, die derzeit ‹herrschende› Forschung. Ich meine die Bereitschaft und die Fähigkeit zu sagen, was einer erlebt und warum er es schätzt oder ablehnt. Jede Richtung produziert ‹Erlebnisse›. Es ist zum Leben auch nötig, von bestimmten Erlebnissen zu sagen, warum man sie gar nicht haben will.
Christliche Wortführer von heute präsentieren ihr Christentum gern als den Erlebnisinhalt: Religion der Liebe. Dann sagen sie, das einzig Wesentliche sei die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Mancher Christ fügt hinzu, sie könnten die Kirchen nur ertragen, weil sie diese Botschaft gegenwärtig halten und die Menschen hindern, in Egoismus, Fachsimpelei und Geldverdienen aufzugehen. Sie mißachteten kirchliche Machtansprüche und theologische Streitigkeiten, aber die Menschheit brauche den Kern ihrer Ethik. Und der allein zähle.
Das sind höchst diskutable theoretische Annahmen. Er setzt voraus, daß sein Gott existiert. Nehmen wir an, es gäbe keinen Gott, dann wäre die Forderung der Gottesliebe wenig sinnvoll. Oder nehmen wir an, es sei die Nächstenliebe allein gemeint. Dann stimmen nicht alle Menschen ergriffen zu, daß sie ihren Nächsten lieben sollen. Sie wollen wissen, warum sie tun sollen, was so wenige tun. Dann beginnt die Diskussion von neuem.
Die Christenheit von heute überschwemmt sich mit Rhetorik der Liebe. Gottes Liebe wird in Zusammenhänge gestellt, in die sie argumentativ nicht gehört, z.B. bei der Frage nach den Gründen der Glaubwürdigkeit der Bibel. Die Liebesredner unterlassen die einfachsten Fragen, zum Beispiel: Warum hat Jesus nie gesagt, Gott sei die Liebe? Kommt Gottes Liebe allen Menschen zugute oder nur den Gläubigen? Läßt Gottes Liebe es zu, daß viele Menschen ewig in der Hölle leiden? War auch der Gott der Hebräischen Bibel die Liebe selbst? Hat er inzwischen dazugelernt und ist gütiger geworden?
Vor allem: Wenn wir über das Christentum reden, müssen wir die Christen selber fragen, was das Wesentliche ihres Glaubens ist. Sie haben jahrhundertelang darum gerungen, ihren Glauben klar darzustellen. Das Ergebnis waren ihre Glaubensbekenntnisse. Sie haben davon mehrere, und sie legen sich auf diese auch heute noch feierlich fest. Sie singen sie laut in ihren Gottesdiensten. Ihr Credo behauptet eine ganze Menge: Jesus sei von einer Jungfrau geboren worden. In der Gottheit lebten drei Personen, und die zweite von ihnen sei Mensch geworden, um uns zu erlösen. Jesus sei hingerichtet worden, aber wieder lebend aus dem Grab herausgekommen. Und er werde für alle sichtbar auf den Wolken des Himmels wiederkommen, zu richten die Lebendigen und die Toten. Und nach dem Tod erwarte uns Menschen das ewige Leben.
Dies sind hochamtliche Formeln, nicht einzelne Aussprüche privater Theologen. Die christlichen Kirchen haben diese Bekenntnisse als ihre verbindliche Wahrheit formuliert. Sie haben jeden verdammt, nach Möglichkeit auch verbrannt, der sie bestritt. Und diese festgeprägten Glaubenssätze enthalten nichts über Liebe. Sie sagen übrigens auch nichts über Gnade und Rechtfertigung, nichts über Taufe und Papst.
Ob das Christentum die Religion der Liebe heißen kann, diskutiere ich später in den Kapiteln über den Gott der
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