Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Geschichte; manchmal produzierte die Erzählung ein Ereignis.
Auf Griechisch heißt jede Erzählung ‹Mythos›, und der von mir empfohlene poetische Wahrheitsbegriff rät an, den Begriff ‹Mythos› ohne den urigen Tiefsinn und die Schwerfälligkeit zu benutzen, die ihm Philosophen des Mythos seit der Romantik angehängt haben. Jede Wundererzählung ist ein ‹Mythos›. Das heißt nicht, sie sei im Sinn einer objektivistischen Wahrheitsdefinition falsch. Sie ist eine Erzählung über eine erstaunliche Begebenheit, bei der sich die faktische Kontrolle als unmöglich erweist, da wir die Einwirkung Gottes nicht als solche identifizieren können.
Das ist nicht alles, was zum Thema ‹Mythos› zu sagen wäre. Nur ist die romantische Hochstilisierung zu redimensionieren, wie sie Joseph Görres 1807 betrieb, als enthalte der alte Mythos die ganze Geschichte eines Volkes in nuce. Ein unerschöpfliches Thema der Historiker sind die alten Mythen gewiß; Philosophen sahen in Mythen die ‹Hauptmächte der Welt, die Totalität der Natur und des Geistes› (Hegel), aber das ist hier mein Thema nicht. Ich erkläre nur meinen Sprachgebrauch: Ich benutze das Wort ‹Mythen›, wenn es um Erzählungen geht, meist Göttergeschichten, bei denen die ‹realistische› Rückfrage nach ‹Tatsachen› nicht angebracht ist.
Weder Jahweh noch Jesus kamen ohne Wunder aus. Jesus beschränkte sich nicht darauf, die Liebe zu Gott und dem Nächsten zu predigen. Er zählte die ‹Zeichen› auf, die er wirke und die beweisen, daß das Gottesreich kommt: Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf, Arme erhalten Grundbesitz, Dämonen werden ausgetrieben. Das Neue Testament berichtet, Jesus habe drei Tote erweckt, acht Besessene befreit und fünfzehn Kranke geheilt. Aber Jesus zeigt auch Distanz zum Wunderwirken: Er vollbringt nicht immer ein Wunder, wo man es erwartet oder erbittet. In der Wüste fordert der Teufel ihn auf, Wunder zu tun; er verweigert sich. Er schützt sich nicht durch Wunderkünste vor Gefangenschaft und Kreuzigung.
Noch ein Wort zum Verhältnis von Wundern und Rationalität: Es gibt Zufälliges und Unerklärliches beim augenblicklichen, wohl aber bei jedem Stand des Wissens. Ich kenne keinen ‹Rationalisten›, der die völlige Durchsichtigkeit der Welt behauptet hätte. Zudem haben Menschen zwischen Kinderkreuzzug und Erstem Weltkrieg im Übermaß Unbegreifliches den Rätseln der Natur hinzugefügt. Daher rücken wellenweise Unerklärtes und Monströses in Kunst und Dichtung in den Vordergrund: Magisches und Verrücktes. Der Film schuf neue Möglichkeiten, Irrationales, Phantastisches und Wunderbares darzustellen. Religionen hatten durch Ordensregeln und Gewissenskultur den Alltag diszipliniert. Max Weber trieb die Entzauberung so weit, daß er glauben konnte, die protestantische Ethik habe die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung erzeugt. Andererseits traten, ebenfalls in historischen Wellen, Religionsgründer und Reformer mit Wundern, mit Engelheeren, Satansmonstern und Hexen auf. In angebbaren Zeitabschnitten überwogen Wundersucht und Aberglaube, Geheimniskrämerei und arkane Kulte, Esoterik und ‹Mystik› die ethische Gesinnung. Dies rief den Protest gerade religiöser Menschen hervor; das 15. Jahrhundert nördlich der Alpen scheint eine solche Zeit gewesen zu sein. Jedenfalls hat der Kardinal Nikolaus von Kues das so gesehen und hat Ernüchterung gefordert. Aber die christliche Religion ohne Wunder gibt es nicht. Sie hat ihre Rationalität als Konvolut locker koordinierter Erzählungen. Sie werden nicht plausibler, wenn man sie abplattet. Sie sollen sein, wie sie sind, oder sie sollen überhaupt nicht sein. Sie brachen mit Alltagsgewißheiten, sie haben gelegentlich auch zu Wachsamkeit und neuem Forschen angeleitet. Sie schufen Distanz zur Prosa des Alltags. Dieses Andersartige der Wunderwelt brachte Augustinus fast zum Verschwinden, als er schrieb, wenn Gott in der Natur ein Wunder wirke, geschehe das nicht gegen die Natur, De civitate Dei 21, 8, 2. Dabei setzte Augustin die Allmacht des Erschaffers voraus, der jedem Ding die Natur zuteilen kann, die er für es will. Was Gott bewirkt, ist allemal die Natur des Dings. Er braucht nicht die einmal von ihm gesetzten Naturen zu respektieren. Er bestimmt souverän, was ihre Natur sein soll. Thomas von Aquino, dem man ein strengeres Naturkonzept nachrühmt, dachte in dieser Frage nicht anders als Augustin, den er zitierte und ausdrücklich bestätigte: Gott ist
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