Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
dem er bekanntgab, er werde die Firma verlassen, weil man ihn nicht zum Derivate-Händler gemacht und so seine Gefühle verletzt habe. Er schien auch noch Beifall dafür zu erwarten, dass er seinen Bonus von 742 006,40 Dollar zurückzahlen wollte. Alles in allem eine sehr spaßige Angelegenheit.
Aber diese Geschichte lenkte von dem eigentlichen, wahren Skandal bei AIG ab, nämlich davon, was mit den übrigen 99 Prozentchln 99 Pr der Gelder geschah, die die Regierung in das Unternehmen gepumpt hatte. Weil der AIG-Konzern CDS-Papiereemittiert hatte, die im Endeffekt eine Verlustversicherung sind, und weil diese Verluste eingetreten waren, ging das Geld an Unternehmen, die im Zuge der Kreditkrise Geld verloren hatten: Dazu gehörten zum Beispiel die Société Générale, die 11,9 Milliarden Dollar erhielt, Goldman Sachs mit 12,9 Milliarden, Merrill Lynch (6,8 Milliarden), die Deutsche Bank (11,8 Milliarden), Barclays (7 Milliarden) und BNP Paribas (4,9 Milliarden).
Nichts könnte besser veranschaulichen, wie weit sich die Krise auf das gesamte internationale System ausgeweitet hatte, als die Tatsache, dass die US-Staatskasse so riesige Summen an ausländische Banken überwies. Die amerikanischen Politiker glaubten, keine andere Wahl zu haben, weil sonst das Finanzsystem kollabieren würde. Aber es war für die amerikanischen Steuerzahler eine überaus bittere Pille, die sie zu schlucken hatten. Noch übler wurde das Ganze dadurch, dass Goldman Sachs nur wenige Monate später Rekordgewinne bekanntgab und Boni in nie dagewesener Höhe zahlte.
AIG war hauptsächlich deshalb Bankrott gegangen, weil man sich bei der Höhe der Risikosummen verrechnet hatte, die in den CDS-Papieren enthalten waren. Der Konzern konnte die Gegenparteien nicht mehr ausbezahlen (das sind diejenigen, die auf der anderen Seite eines Versicherungsgeschäfts stehen, die Versicherten nämlich). Aber die Gegenparteien hatten denselben Fehler gemacht, weil sie ihre Versicherungen bei einer Gesellschaft abgeschlossen hatten, die im Falle einer strukturellen Krise nicht in der Lage sein würde, sie auszubezahlen. Warum sprangen also die Versicherungsnehmer fröhlich pfeifend davon, ihre Taschen prall gefüllt mit dem Geld der US-Staatskasse, während der amerikanische Steuerzahler auf einem astronomischen Verlust sitzenblieb? Man beachte, dass die Marktkapitalisierung – also der Gesamtwert der Aktien – des AIG-Konzerns lediglich bei 2 Milliarden Dollar lag. Die Rettung des Unternehmens kostete das 85-Fache dessen, was es gekostet hätte, es zu kaufen. Warum also rettete das amerikanische Finanzministerium die Firma dann? Eben weilAIG »too big to fail« war. Der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 hatte die bereits vorhandene Krise so sehr verschärft, dass es beinahe zu einem Kollaps des Weltwirtschaftssystems gekommen wäre.
Zu diesem Zeitpunkt sah es so aus, als könne alles in sich zusammenbrechen, oder um es mit den mittlerweile unsterblich gewordenen Worten George W. Bushs zu sagen: »This sucker could go down.« (Die amerikanische Satirezeitschrift The Onion schrieb damals: »Bush fordert zur Panik auf.«) Die Lektion aus der Lehman-Pleite war in den Augen der Politiker glasklar: Kein Finanzinstitut von vergleichbarer Größe durfte jemals wieder dem Bankrott überantwortet werden. AIG wurde deshalb gerettet, weil der Konzern dem gesamten Weltwirtschaftssystem die Pistole auf die Brust gesetzt hatte.
Buffett hatte doppelt recht, wenn er die neuen Finanzinstrumente mit Massenvernichtungswaffen verglich. Zum einen haben sie geradezu tödliche Auswirkungen und zum andern weiß niemand, wie man ihnen auf die Spur kommen soll. Setzt man die Erfindung von Derivaten mit dem Anbruch der Moderne im Finanzwesen gleich, so ähnelt die momentane Krise auf beunruhigende Weise der Geburt des Postmodernismus.
Jedem, der innerhalb der letzten Jahrzehnte Literaturwissenschaft studiert hat, kommt die gegenwärtige Krise seltsam bekannt vor: Der Begriff des Wertes, wie er sich im Bereich des Finanzkapitals darstellt, gleicht dem schwer zu fassenden Konzept der Bedeutung im Dekonstruktivismus. Laut Jacques Derrida, dem Hauptvertreter dieser Denkrichtung, lässt sich Bedeutung nie präzise lokalisieren. Sie wird vielmehr andauernd »verschobesti »versn«, an andere Orte gerückt, anderen Bedeutungen zugeordnet, die ihrerseits auf wieder andere Bedeutungen verweisen – eine Schlange, die sich immerzu und unwiderruflich selbst in den Schwanz
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