Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
beißt. Dieser Prozess der Verschiebung ist stetig und fließend, aber es gibt Momente, in denen er zum Stillstand kommt und in sich zusammenbricht. Derrida nennt diese Momente »Aporien«, von dem griechischen Wort»Aporia«, was so viel heißt wie »Rat-« oder »Ausweglosigkeit«. Es ist sowohl amüsant als auch erschreckend zu sehen, wie man seine Theorien in der Welt der Finanzmärkte mit so katastrophalen Folgen durchgespielt hat. Und einen wesentlichen Beitrag dazu haben die CDS-Papiere geleistet, mit deren Hilfe die Risiken im gesamten Finanzsystem verbreitet wurden. Das lag nicht zuletzt daran, dass die meisten von ihnen im sogenannten Freiverkehr verkauft wurden – von einer Institution zur anderen, ohne dass es einen Zwischenhändler gab. Deshalb gibt es auch kein Zentralverzeichnis für diese Papiere und keine Instanz, die in der Lage wäre, die marktweiten Risiken einzuschätzen und zu kontrollieren.
Als logische Folge daraus gibt es auch keine verantwortliche Instanz, die überprüft, ob die jeweiligen Gegenparteien auch tatsächlich in der Lage sind, die Summen zu bezahlen, die sie aufbringen müssten, falls die Versicherungen eingefordert werden. Auch hier gilt das Prinzip des caveat emptor – der Käufer muss aufpassen, dass auch alles seine Richtigkeit hat. Außer dass in diesem Fall der Käufer eben nicht aufpassen musste, weil ihm im Ernstfall die Steuerzahler aus der Patsche helfen würden. Wie sich also letztendlich herausstellte, folgte man hier eher dem Grundsatz: »He, Käufer, Kumpel, du brauchst nicht aufzupassen, wir haben die Sache im Griff.« Verschlimmert wurde das Ganze noch dadurch, dass viele Risiken verkauft und weiterverkauft wurden, ohne dass man wusste, wer überhaupt die ursprüngliche Gegenpartei war. So konnte es passieren, dass ein Geschäft von derselben Bank mehr als einmal versichert wurde. Und die Risiken, um die es dabei ging, waren riesig. Schon im Juni 2008 schätzte die International Swaps and Derivatives Association, ISDA – die Vereinigung jener Firmen, die mit Swaps und Derivaten Handel trieben –, dass sich die Gesamtgröße des Marktes auf etwa 54 Billionen Dollar belief: 54 000 000 000 000 Dollar! Das ist fast genauso viel wie das Bruttoinlandsprodukt des gesamten Planeten, und dieser Wert beträgt ein Vielfaches der gesamten Aktien und Anteile, die weltweit gehandelt werden. Der zugrundeliegende Wert der Risiken, die hier versichert wurden, lag natürlich weit unter diesem fiktiven Wert. Aber wie uns das Fiasko von Long Term Capital Management gelehrt hat, reißen diese Deals, falls sie platzen, riesige Löcher in das Finanzsystem, denn es gibt unendlich viele Vertragspartner, die sich mit diesen fiktiven Risikosummen exponiert haben. Es ist wie beim Schwarzen Peter: Man schiebt ihn sich fröhlich zu, keiner weiß, wer ihn gerade in der Hand hält, und noch viel weniger weiß man, was passiert, wenn endlich alle Karten auf den Tisch gelegt werden.
Aus diesem Grund waren die Banken, als die Krise begann, auch plötzlich so abgeneigt, einander Geld zu leihen. Es kam zu Liquiditätsengpässen, und die Finanzinstitute begannen der Reihe nach zu kollabieren. Das Problem bestand darin, dass die CDS-Papiere und ähnliche Finanzinstrumente in einer Weise verkauft worden waren, die jegliche Transparenz ausschloss. Es war ein Schwarzer-Peter-Spiel von gigantischen Ausmaßen. Und es war so komplex, dass selbst in dem Moment, als man dann tatsächlich alle Karten auf den Tisch legte, noch immer niemand so recht begreifen oder nachvollziehen konnte, wasda eigentlich gerade geschehen war. Diese Finanzinstrumente also, jene Credit Default Swaps, die erfunden worden waren, um das Vergeben von Krediten sicherer zu gestalten, waren am Ende dafür verantwortlich, dass Risiken im gesen siken iamten Weltfinanzsystem verbreitet und um ein Vielfaches vergrößert wurden. Es war ganz so, als hätte man die Erfindung des Sicherheitsgurts zum Anlass genommen, regelmäßig in volltrunkenem Zustand Auto zu fahren.
3. Kapitel
Aufschwung und Niedergang
Die Trostlosigkeit mancher amerikanischer Städte hat etwas Einzigartiges. Einmal gesehen, vergisst man sie nie wieder. Meine erste Bekanntschaft mit diesem Phänomen machte ich 1996 in der Innenstadt von Detroit. Was mir dort vor allem auffiel, war die niederschmetternde und beklemmende Leere, die überall in den Straßen herrschte. Es war mehr als nur die übliche Verlorenheit, die alle Hochhäuser am Boden um sich verbreiten.
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