Warum Liebe Weh Tut
Beispiel: ›Ich bin eine schöne Frau. Ich genüge mir‹.« [83] Oder, aus einer Internetkolumne:
274 Der gemeinsame Nenner all dieser Arten von obsessiver Liebe oder Liebessucht ist das, was wir eingangs feststellten – ein Mangel an Selbstwertgefühl. Wenn wir einmal begreifen, daß wir stets »sicher« sind, ob wir nun allein oder in einer Paarbeziehung sind, besteht keine Notwendigkeit mehr, für seine Bestätigung auf andere zu bauen . Wir können uns selbst loben, uns selbst lieben und wertschätzen und damit jenen, mit denen wir interagieren und die uns am Herzen liegen, ein vollständiges menschliches Wesen bieten. Emotionaler Hunger kann nie von anderen gestillt werden. Die romantische Illusion ist der Traum von einer vollkommenen Person, die es natürlich nur im Märchen gibt. Liebe ist genaugenommen nicht etwas, das wir von außerhalb unserer selbst erhalten. [84]
Ein solcher Rat – ersetze Liebe durch Eigenliebe! – leugnet den grundlegend und essentiell sozialen Charakter des Selbstwerts. Er verlangt von den Akteuren, etwas zu erzeugen, was sie aus eigenen Kräften nicht erzeugen können. Die moderne Obsession damit und Aufforderung dazu, »sich selbst zu lieben«, ist ein Versuch, das reale Bedürfnis nach Anerkennung durch Autonomie zu befriedigen. Anerkennung aber kann nur durch das Eingeständnis der eigenen Abhängigkeit von anderen erlangt werden. Letztlich ermuntern die psychologischen Erklärungsmodi zur Selbstbezichtigung:
Manche Menschen wollen das Warum verstehen: Warum zweifeln sie an sich selbst? Warum ist ihre Selbstachtung untergraben? Warum tut es so weh, verlassen zu werden? Nicht akzeptiert zu werden? Von einem Freund gekränkt zu werden? Woher kommt diese Verletzlichkeit? Was hat sie verursacht? Was hält sie am Leben?
Die einfache Antwort lautet »ungeklärte Verlassenheit« ( unresolved abandonment ). Um aber das Warum und Weshalb wirklich verstehen zu können, müssen wir zurückgehen – bis hin zu unserer Urangst vor der Verlassenheit …
Wenn wir als Erwachsene spüren, wie uns jemandes Liebe oder Zustimmung entgleitet, brechen unsere urtümlichsten Selbstzweifel hervor. Unsere tiefste Angst fliegt uns um die Ohren – daß uns jemand 275 verlassen und nie wiederkommen könnte. Und diese Angst wird durch den Umstand verkompliziert, daß sie mit unserem Selbstwertgefühl zusammenhängt. Indem sich jemand von uns losreißt, spüren wir den Verlust unserer Fähigkeit, sie oder ihn dazu zu nötigen, mit uns zusammensein zu wollen.
Wir haben das Gefühl, unseren schlimmsten Alptraum zu erleben – den, verlassen zu werden, weil wir wertlos sind. Daher haben Vorfälle wie die, von einem Freund gekränkt, von einem Lehrer übergangen, von einem Chef übersehen und vor allem von einem geliebten Menschen zurückgewiesen zu werden, das Potential, unsere Selbstachtung zu untergraben und Selbstzweifel zu säen.
Das beschädigte Selbstwertgefühl von den gesammelten Wunden der Verlassenheit, die seit der Kindheit schwären, zu heilen, beginnt damit, die Dynamik der Geschehnisse zu verstehen. Aber das ist nur der Anfang, und es gibt Werkzeuge (über die ich in meinen Büchern berichte), um ein neues Selbstgefühl aufzubauen, das unbesiegbar ist und einem niemals von jemand anderem genommen werden kann . [85]
Diese Psychologin bemerkt zu Recht, daß das Selbstwertgefühl maßgeblich von der Erfahrung einer Trennung betroffen ist. Ihre eilfertige Erklärung jedoch macht eine mißratene Entwicklung des Selbst zum Hauptschuldigen sowohl für das Bedürfnis nach der Zuschreibung eines Wertes durch andere als auch für die Unfähigkeit, diesen Wert zugeschrieben zu bekommen. Das Bedürfnis nach anderen läuft in solchen Erklärungen eigentlich immer auf einen Mangel an Selbstachtung hinaus, womit die Notwendigkeit der Anerkennung verschleiert und das Selbst für sein Unvermögen, die Spannung zwischen Autonomie und Anerkennung in den Griff zu bekommen, verantwortlich gemacht wird. Die Umstellung von Beschuldigung auf Selbstbeschuldigung ist so geartet, daß sogar die Abwesenheit einer Beziehung als Zeichen einer unreifen oder grundlegend beschädigten Psyche rückinterpretiert wird. So schreibt eine alleinstehende Frau auf einer israelischen Website:
276 Tief im Innern weiß ich, daß der Fehler bei mir liegt. Das Problem ist, daß ich immer noch nicht weiß, was ich eigentlich falsch gemacht habe. Manchmal scheint mir, ich hätte mir nicht genug Mühe gegeben. In anderen
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