Warum Liebe Weh Tut
nach Klärung verlangt. Eine solche Kette von Ursache und Wirkung ist ein schönes Beispiel für das, was Marx und Engels »falsches Bewußtsein« nennen. Wir können dieses falsche Bewußtsein durch den Umstand charakterisieren, daß das Subjekt unfähig ist, die Natur und die Ursachen seiner (sozialen) Not zu erkennen und zu benennen, und daß es, wenn es sich einen Reim auf diese Not zu machen versucht, zu seinem eigenen Nachteil den Standpunkt eines anderen (in unserem Falle des Mannes) einnimmt – die Frauen klagen sich selbst der Sünde an, verlassen worden zu sein. Daß jedoch der Standpunkt des Mannes ihren eigenen so leicht verdrängt, ist ebenfalls in gewissem Maß erklärungsbedürftig. Schlicht davon auszugehen, daß Ideologie eben so funktioniert, wäre tautologisch. Das falsche Bewußtsein kann nicht selbst die Erklärung sein, nachdem es als Explanandum ja seinerseits der Erklärung bedarf. Worin besteht der Mechanismus, durch den wir uns die Perspektive eines anderen zu eigen machen und dessen Interessen verteidigen? Um die Macht und Effizienz des falschen Bewußtseins zu verstehen, müssen wir seine praktischen Grundlagen bloßlegen, die Art und Weise, wie es das Psychische mit dem Sozialen verbindet. Ich behaupte, daß ein solches falsches Bewußtsein – sich dafür verantwortlich zu fühlen, daß man verlassen worden ist – dadurch erklärt wird, wie verschiedene Eigenschaften unseres moralischen Universums und die Macht der Männer ineinandergreifen: nämlich die Struktur 270 der Anerkennung in romantischen Beziehungen (und wahrscheinlich in der Moderne im allgemeinen); die Tatsache, daß das Ideal der Autonomie der Anerkennung in die Quere kommt und innerhalb einer grundsätzlichen strukturellen Ungleichverteilung von Autonomie wirksam ist; sowie die Tatsache, daß die Vorstellungen von Selbst und Verantwortung in psychologische Erklärungsmodi eingelassen sind. Ich möchte die kontraintuitive Behauptung aufstellen, daß nicht ein Mangel an Moral in romantischen Beziehungen, sondern gerade die moralischen Eigenschaften der modernen Liebe – in ihrer Prägung durch die Spannung zwischen dem Gebot der Autonomie und der Anerkennung – erklären, wie und warum die Struktur der moralischen Schuld radikal transformiert wurde.
Die moralische Struktur der Selbstbeschuldigung
Der Hauptgrund für die Transformation der moralischen Struktur der Schuld hat mit dem Umstand zu tun, daß die Spannung zwischen Anerkennung und Autonomie im großen und ganzen durch eine zunehmende Betonung der Autonomie seitens der therapeutischen Modi der Selbstkontrolle aufgelöst wurde. In der therapeutischen Kultur kommt es zu einem Gewinn an Autonomie, wenn das Subjekt verstehen kann, inwiefern seine Vergangenheit seine gegenwärtige Situation bedingt. Dies wiederum impliziert ein Erklärungsmodell, in dem die eigenen Mißerfolge als Manifestationen oder sogar Einbrüche vergangener traumatischer oder ungeklärter Ereignisse gelten, die das Subjekt sich bewußt zu machen und zu bewältigen angehalten ist. Ein beträchtlicher Teil der psychologischen Ratschläge geht ganz einfach davon aus, daß Verlassenwerden oder die Nachlässigkeit und Distanziertheit seitens des oder der Geliebten (ob real oder als drohende Möglichkeit) nur deshalb 271 so sehr schmerzen können, weil die ängstliche Person durch traumatische Kindheitserlebnisse geprägt ist, in denen sie (real oder eingebildet) verlassen beziehungsweise nachlässig oder distanziert behandelt wurde. Auch wenn die Therapie nicht darauf abzielt, den Subjekten die Verantwortung für ihre Mißerfolge zuzuschieben, verlangt sie somit in der Praxis doch, daß die Subjekte die Gründe für ihre Lebenskrisen in ihren privaten Lebensgeschichten und in ihrer Weigerung, ihre Probleme durch Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis zu lösen, zu suchen haben. Indem sie behauptet, daß wir stets willige, aber blinde Komplizen unseres Schicksals sind, macht die Therapie das Selbst in gewisser Weise für seine Niederlagen und Abstürze mitverantwortlich – und sie macht es obendrein dafür verantwortlich, jegliche Form von Abhängigkeit zu vermeiden. Während Abhängigkeit für Soziologen die unvermeidliche Folge der Tatsache ist, daß wir soziale Wesen sind, und folglich kein pathologischer Zustand, sollte sie nach Meinung von Psychologen ausgemerzt werden. Und wenn sich jemand »emotional nicht erreichbare« Partner aussucht, dann verweist dies aus ihrer Sicht stets auf ein
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