Warum Liebe Weh Tut
Liebesgeschichten-Wettbewerbe registrierte die New York Times eine völlige Umkehrung der Interaktionsformen: Die eingereichten Texte drehten sich nicht mehr um gelegentliche One-Night-Stands, sondern um internetvermittelte Beziehungen.
Im Februar [2011] forderte Sunday Styles [Rubrik der New York Times ] Studierende im ganzen Land dazu auf, uns – durch ihre eigenen Geschichten, in ihren eigenen Stimmen – zu erzählen, wie es ihnen mit der Liebe geht. Als wir diesen Wettbewerb vor drei Jahren zum ersten Mal veranstalteten, war das beliebteste Thema der eingereichten Essays das Abschleppen: Sex ohne Verpflichtungen, der sich 409 für viele als gar nicht so sorglos herausstellen sollte. Die Frage, die über hunderten solcher Darstellungen zu schweben schien, lautete: Wie kriegen wir das Körperliche ohne das Emotionale? Was für einen Unterschied drei Jahre machen können. Diesmal war die am häufigsten gestellte Frage das genaue Gegenteil: Wie kriegen wir das Emotionale ohne das Körperliche? Der universitäre One-Night-Stand mag gesund und munter sein, in unseren Einsendungen aber verlagerte sich der Schwerpunkt auf technologiegestützte Intimität – Beziehungen, die nahezu ausschließlich über Laptops, Webkameras, Onlinechats und SMS entstehen und vertieft werden. Im Unterschied zur sexuellen Risikobereitschaft der One-Night-Stand-Kultur ist dies eine Liebe, die so sicher ist, daß die größte Befürchtung nicht darin besteht, sich eine Geschlechtskrankheit einzufangen, sondern einen Computervirus – oder vielleicht darin, dem Objekt der Zuneigung persönlich zu begegnen. [51]
Das Internet und die diversen Technologien, die es ermöglichen, jemanden am Bildschirm zu verfolgen und zu sehen, spielen eine herausragende Rolle bei dieser neuen Form von Partnersuche. Wie es in einem anderen New York Times -Artikel jedoch ebenfalls hieß:
In großer Zahl berichten Internetnutzer, daß sie äußerst verzagt ans Online-Dating herangegangen sind, sich ihm dann aufgrund des großen Vergnügens und der buntscheckigen Versuchung, die es darstellt, rasch begeistert gewidmet haben, anschließend der Versuchung nachgaben, sich die Person, mit der sie sich austauschten, als Liebe ihres Lebens vorzustellen, um schließlich eine tiefe Enttäuschung zu erleben, wenn das Ganze schließlich zu einem realen Treffen mit einem echten, unvollkommenen menschlichen Wesen führte, das nicht wie eine JPEG -Bilddatei aussieht und nicht wie eine E-Mail spricht. [52]
410 Wie ich in Gefühle in Zeiten des Kapitalismus argumentiere, muß der imaginative Stil, der sich in und durch Internet-Kontaktbörsen bildet, vor dem Hintergrund einer Technologie verstanden werden, die Begegnungen entkörperlicht und textualisiert, also den sprachlichen Austausch zu dem Mittel macht, über das eine psychologische intime Kenntnis hergestellt wird. [53] Die so hergestellte Intimität beruht auf keiner Erfahrung und ist nicht körperlich grundiert, sondern entspringt der Produktion psychologischen Wissens und psychologischer Formen, sich aufeinander zu beziehen. Die Internetphantasie lebt von einer Fülle textbasierten kognitiven Wissens; dieses verdankt sich der Priorität, die das Netz der Definition von Subjekten als Wesen mit erkennbaren, für sich stehenden und sogar quantifizierbaren psychologischen Merkmalen und Lebensstilattributen einräumt. Zeichnete sich die traditionelle romantische Einbildungskraft durch eine Mischung aus Realität und Vorstellung aus, die über eine Grundlage im eigenen Körper und Erfahrungsschatz verfügte, so trennt das Internet die Einbildung – als ein Bündel selbsterzeugter subjektiver Bedeutungen – und die Begegnung mit dem anderen voneinander, insofern es sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden läßt. Auch die Kenntnis des anderen ist vielfach gespalten, weil dieser erst als eine selbsterschaffene psychologische Einheit, dann als eine Stimme und erst danach als ein Körper wahrgenommen wird, der sich bewegt und handelt.
Die Phantasieproduktion im Internet steht nicht im Gegensatz zur Realität, sondern zu einer Art von Einbildung, die sich auf den Körper und intuitive Gefühle stützt, also solche Gefühle, die auf der spontanen und nicht reflektierten Einschätzung anderer beruhen. [54] Sie steht im Gegensatz 411 zur rückblickenden Einbildung, also jener Art von Einbildung, bei der man versucht, der durch die reale körperliche Gegenwart eines anderen ausgelösten
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