Warum Liebe Weh Tut
das heißt von abstrakten und formalen Regeln, wie man sich anderen und seinem eigenen Gefühlsleben gegenüber verhalten soll; (4) während das vormoderne Begehren von einer Mangelwirtschaft geprägt war, ist das Begehren heute, bedingt durch die normative sexuelle Freiheit und die Kommerzialisierung des Sex, von einer Überflußwirtschaft bestimmt; (5) und schließlich ist das Begehren in das Reich 436 der Einbildungskraft eingewandert und gefährdet damit die Möglichkeit, weiterhin in echten Interaktionen zu begehren. In diesem Sinne wird das Begehren zugleich schwächer und stärker: schwächer, weil es keinen Rückhalt im Willen mehr findet – Wahl und Auswahl schwächen den Willen eher, als daß sie ihn stärken –, und stärker, insofern es in die Ersatzwelt der virtuellen und indirekten Beziehungen Einzug hält.
Dieses Buch könnte alles in allem wie eine Anklageschrift gegen die Liebe in der Moderne erscheinen. Sinnvoller läse man es freilich als einen Versuch, der sich gegen die vorherrschenden Vorstellungen richtet, Männer seien psychologisch und biologisch von Natur aus unfähig zu tiefen Verbindungen und Frauen fiele es leichter, die Liebe zu finden und zu bewahren, wenn sie an ihrer psychologischen Konstitution arbeiteten. In Wirklichkeit sind Biologie und Psychologie – als Methoden, die Schwierigkeiten romantischer Beziehungen zu erklären und zu legitimieren – Teil des Problems und keine Lösungen für diese Schwierigkeiten. Wo die emotionale Ungleichheit von Männern und Frauen in die Biologie, Evolution oder psychische Entwicklung eingeschrieben wurde, wurden diese Unterschiede erheblich aufgebauscht und bis zu einem gewissen Grad durch die Kultur und die Institutionen der Moderne gerechtfertigt; verantwortlich hierfür waren vor allem die sich wandelnden Muster des ökonomischen Überlebens, die Kommerzialisierung des Sex und die normative Freiheit und Gleichheit von Männern und Frauen. Die Venus-und-Mars-Terminologie, mit der wir unsere Unterschiede zu erklären und zu beschwichtigen versucht haben, wird uns also offensichtlich nicht weiterhelfen; tatsächlich dient sie lediglich dazu, die kulturell erzeugten Unterschiede noch weiter zu naturalisieren. Eine solche Terminologie postuliert, daß Männer und Frauen grundlegend anders sind, daß Männer gerne Probleme lösen und Frauen Anerkennung suchen – und folglich 437 die Lösung darin besteht, daß die Männer den Frauen zuhören und sie bestätigen, während die Frauen das männliche Bedürfnis nach Autonomie respektieren sollen. Möchte dieser Rat desorientierten Männern und Frauen auch wie eine nützliche Hilfestellung scheinen, um über die hohe See der Geschlechterunterschiede zu schiffen, so dient er doch in vielerlei Hinsicht vor allem dazu, die Auffassung zu stärken, Männer seien emotional unfähig und Frauen müßten ihre emotionale Konstitution in den Griff bekommen.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß Männer und Frauen nicht persönlich für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden sollen. In keiner Weise schmälert oder unterschätzt das vorliegende Buch die Vorstellung persönlicher Verantwortung und Rechenschaft in zwischenmenschlichen Beziehungen. Es argumentiert ganz im Gegenteil dafür, daß ein Verständnis der auf beide Geschlechter einwirkenden allgemeineren Kräfte und Faktoren dazu beitragen kann, die Bürde eines Übermaßes an Verantwortungszuschreibung zu vermeiden und den Ort persönlicher und ethischer Verantwortung genauer zu bestimmen. Gewiß werden viele kritische Leserinnen und Leser, die dieses Buch zweifellos haben wird, wissen wollen, worin meine politischen Empfehlungen bestehen. Eine der wichtigsten normativen Annahmen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, ist die, daß der Verlust der Leidenschaft und Gefühlsintensität ein kulturell gravierender Verlust ist und daß die Abkühlung der Gefühle uns zwar weniger verletzlich machen mag, es uns aber auch erschwert, uns mit anderen in leidenschaftlichem Engagement zu verbinden. In diesem Punkt schließe ich mich Cristina Nehrings oder auch Jonathan Franzens Auffassung an, daß leidenschaftliche Liebe ohne Schmerz nicht zu haben ist und daß dieser Schmerz uns nicht ängstigen sollte: »Schmerz tut weh, aber er tötet nicht. Bedenkt man die Alternative – einen narkotisierten, technisch begünstigten Traum von Autarkie –, dann erscheint der Schmerz als das natürliche 438 Produkt und der natürliche Indikator des Lebendigseins
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