Warum Mathematik glücklich macht: 151 verblüffende Geschichten (German Edition)
wahrscheinlich ist es, dass die Frau tatsächlich Brustkrebs hat?
Dies ist eine naheliegende Frage, von der man sich vorstellen kann, dass die betroffene Frau sie sich selber und anschließend auch ihrem Arzt stellt. Die oben genannten Zahlen sind authentisch; es handelt sich bei der genannten Frage um ein medizinisches Standardszenario in der Arzt-Patient-Screening-Situation.
Gigerenzer stellte die Frage einer Reihe von Ärzten mit mittlerer Berufserfahrung. Diese arbeiteten in den Bereichen Universitätsklinik, privates oder öffentliches Krankenhaus, eigene Praxis. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Die Antworten variierten zwischen 1 %(!) und 90 %(!). Ein Drittel der Ärzte schätzte die Wahrscheinlichkeit auf 90 %, ein weiteres Drittel gab Prozentzahlen im Bereich von 50 % bis 80 %, ein Drittel im Bereich von 1 % bis 50 % an.
So oder so: halbe-halbe
Früher starben 50 Prozent der Patienten mit AV-Block 3. Grades nach Auftreten der ersten Symptome, heute überleben 50 Prozent dieser Patienten.
Aus der Neu-Isenburger Ärzte-Zeitung, 30.1.1984
Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit wirklich?
Die Antwort wird zunächst überraschen. Sie liegt bei gerade einmal 9 %. Dieser niedrige Prozentsatz läuft der Intuition zuwider. Wie kann man sich diesen Wert verständlich machen? Mathematisch lässt sich die Rechnung mit dem Satz von Bayes durchführen, der für die Behandlung und das Rechnen mit so genannten bedingten Wahrscheinlichkeiten maßgeschneidert ist. Dies sind Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen unter der Voraussetzung von bestimmten anderen Ereignissen. Im vorliegenden Kontext ist es die Wahrscheinlichkeit eines positiven Mammogramms unter der Voraussetzung, dass Brustkrebs tatsächlich vorliegt, oder die Wahrscheinlichkeit, dass Brustkrebs vorliegt unter der Voraussetzung, dass das Mammogramm positiv war. Diese beiden Wahrscheinlichkeiten sind nicht identisch, werden aber von einem Drittel der Ärzte in Gigerenzers Studie offenbar als gleich eingeschätzt, worauf wahrscheinlich deren geäußerter Schätzwert von 90 % basiert.
Doch man muss nicht unbedingt den Satz von Bayes heranziehen. Im Gegenteil, ihn zu bemühen kann man zahlenkompetenzinsuffizienzkompensatorisch (ein Wort, das ich unbedingt einmal verwenden wollte) gar nicht empfehlen. Man kann das Problem nämlich auch ohne Wahrscheinlichkeitstheorie lösen, ganz allein durch Rückgriff auf den gesunden Menschenverstand bei Beteiligung von etwas Datenmanagement.
Nehmen wir eine Grundgesamtheit von 1000 Frauen im Alter von 50 Jahren, die sich dem Screening unterziehen, und drücken die obigen Wahrscheinlichkeiten in absoluten Häufigkeiten aus. Eines der Kennzeichen dieses komfortablen Ansatzes ist die Natürlichkeit, mit der er das vormals Schwierige augenfällig macht: Von unseren 1000 Frauen werden im Schnitt 8 Brustkrebs haben. Von diesen 8 Frauen mit Brustkrebs werden wieder im Schnitt 7 ein positives Mammogramm erhalten. Andererseits werden von den 992 Frauen ohne Brustkrebs im Schnitt 70 ebenfalls ein positives Mammogramm haben. Wohlgemerkt, ohne dass sie an Brustkrebs leiden, einfach aufgrund der Falsch-Positiv-Rate der Mammographie-Untersuchung bekommen sie einen positiven Befund. Das ergibt 77 von 1000 Frauen mit positivem Mammogramm. Von diesen 77 Frauen haben aber nur 7 tatsächlich Brustkrebs. Und 7 von 77, das sind 9 von 99, also ziemlich genau 9 %.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
Die Geschichte von 100 Patienten, die zweifelsfrei an Migräne litten und in einer Studie von verschiedenen Ärzten untersucht wurden.
Wenn sie vom Gynäkologen kommen, haben die Kopfschmerzen eine hormonelle Ursache, und der Uterus muss raus, HNO-Ärzte halten die Schmerzen für eher sinusitisbedingt und operieren gern die Kieferhöhlen. Der Internist sieht einen niedrigen Blutdruck als Quelle allen Übels und versucht, diesen zu kurieren. Zahnärzte verdächtigen das Amalgam und entfernen es aus dem Gebiss. Die höchste Fehlerquote wiesen Orthopäden auf, die fälschlicherweise in 85 Prozent der Fälle behaupteten, der Kopfschmerz komme von der Halswirbelsäule.
Hans-Christoph Diener in Medical Tribune vom 19.3.1993
Ein ebenso krasses, wenn nicht gar noch krasseres Beispiel defizitärer Interpretation von Studienergebnissen, Wahrscheinlichkeiten und Häufigkeiten stammt aus den USA. Es betrifft ein Thema mit starkem Emotionsbezug. Noch nicht allzu lange ist es her, da empfahlen Gynäkologen jenen Patientinnen, die zu einer genetisch
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