Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
seiner Tochter in der Schule war; eine kleine Schwester, für die Hilal die liebste Spielfreundin war; einen großen Bruder, der immer auf seine kleinen Schwestern aufpasste. Außenstehende können nicht wirklich nachvollziehen, wie viel Schmerz und Verzweiflung bleiben, wenn eine solche Kluft in eine Familie geschlagen wird. Bei Hilals Familie kommt eine weitere Last dazu, die besonders schwer wiegt: die Ungewissheit.
Zeugen werden ausfindig gemacht. Im Supermarkt kann sich niemand an das Mädchen erinnern, aber die Kassenbons belegen, dass um 13:22 Uhr ein einzelnes Päckchen Kaugummi verkauft wurde. Hilal verschwand also sehr wahrscheinlich danach. Ein Gemüsehändler hat sie zuletzt um 13:25 Uhr gesehen. Jemand erzählt von einem Metzger, der Kinder anspricht. Jemand will zwei Männer mit einem Mädchen gesehen haben.
Nach einer Woche werden die Spezialisten des Landeskriminalamts hinzugezogen, darunter auch ich. Es ist meine erste Begegnung mit der Familie E. Gemeinsam mit Reinhard Chedor, dem Leiter der Ermittlungen, stehe ich in der Luruper Polizeiwache und bespreche die Ermittlungsergebnisse, als die Tür aufgeht und Hilals Eltern ins Besprechungszimmer kommen. Der Vater hat ein Paar Schuhe gekauft, die er auf den Tisch stellt: »Solche Schuhe trug Hilal«, sagt er. »Was macht ihr jetzt?« Wir erklären ihm, dass wir in alle Richtungen ermitteln. Er dreht sich um, geht mit seiner Frau aus der Tür und sagt: »Die machen nichts!«
Die Verzweiflung der Familie wächst mit jedem Tag. Die Ängste, die Traurigkeit – und die Wut, die auch der Ohnmacht entspringt, nichts tun zu können. Diese Wut findet kein Ventil. Die Angehörigen kennen den Täter nicht, sie wissen nicht, auf wen sie wütend sein können, ja, sie wissen nicht mal, ob es überhaupt einen Täter gibt, denn es könnte auch ein Unfall geschehen oder Hilal könnte weggelaufen sein. Sie wissen nichts.
Nicht selten richtet sich diese Wut dann gegen die Polizei. Wir müssen trotzdem Vertrauen aufbauen, aber dürfen keine falschen Hoffnungen wecken: »Momentan erscheint uns das Wahrscheinlichste, dass Hilal Opfer eines Verbrechens geworden ist. Wir versuchen alles zu tun, was wir können.« Keiner dieser Sätze beruhigt die Familie.
Ihr Leid wird größer. Ein Unbekannter ruft bei den Eltern an. Er sagt, er wisse, wo Hilal ist. Die Eltern sollen sich mit ihm in einer Stunde an der Christuskirche treffen. Sie fahren hin, warten. Vielleicht bringt der Mann Hilal sogar mit? Sie hoffen. Niemand kommt. Ein bösartiger Scherz? Oder weiß jemand, was geschehen ist? Ungewissheit.
Mittlerweile ist die Besondere Aufbauorganisation ( BAO ) »Morgenland« gegründet worden, ein Team aus 20 Beamten, das sich nur um die Suche nach Hilal kümmert. Den Hinweis auf den Metzger haben sie verfolgt. Sein Lieferwagen wird auf Spuren untersucht, aber es findet sich nichts.
Ein Sexualverbrechen scheint weiterhin am wahrscheinlichsten. Eine Zeugin hat sich gemeldet, die gegen 13:35 Uhr ein Mädchen an der Hand eines Mannes gesehen haben will. Er stieg mit dem Kind in ein dunkles Auto, wahrscheinlich ein alter BMW . Ein anderer Zeuge hat ebenfalls einen Mann mit einem Mädchen gesehen. Der Mann habe wie »Kojak« ausgesehen, wie der glatzköpfige Fernsehpolizist. Kojak in einem dunklen BMW ?
Andere Möglichkeiten? Selbstmord? Unfall? Unwahrscheinlich, dann wäre das Mädchen mittlerweile gefunden worden. Genauso, wenn es davongelaufen wäre. Eine Entführung? Womöglich. Vielleicht gibt es Ansätze in der Familie? Politische Hintergründe in der Türkei? Rache? Oder ein Familienmitglied hat das Mädchen in die Türkei gebracht? Den Beamten sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass die Eltern sich trennen wollten. Ist das ein Ansatzpunkt? Wir wissen um das Leid der Familie, aber wir dürfen auch diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Bald wird uns die erste große Lüge in diesem traurigen Fall begegnen.
Die Großmutter hat gelogen.
Frau D. ist 54 Jahre alt und die Mutter von Hilals Mutter. Sie folgte als junge Frau ihrem Mann aus Izmir nach Deutschland, wo er als Gastarbeiter nach Hamburg ging. Mittlerweile ist sie von ihm geschieden. Als sie nach Hilals Verschwinden mit Hilfe eines Dolmetschers vernommen wurde, war sie sehr wortkarg. Sie gab an, an jenem Nachmittag zwei türkische Freundinnen besucht zu haben. Nun, zwei Wochen später, versuchen die Ermittler den Tagesablauf jedes Familienmitgliedes nachzustellen. Sie machen sich auch mit Frau D. auf den Weg,
Weitere Kostenlose Bücher