Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
würde Hilal jetzt noch mit uns hier am Esstisch sitzen!
Schuldgefühle sind eine Folter. Doch sie können auch als psychischer Schutzmechanismus dienen. Sie wehren ein noch unerträglicheres Gefühl ab: die Ohnmacht. Es kommt häufig vor, dass sich Eltern schwere Vorwürfe machen, wenn sie ihr Kind durch einen Unfall oder ein Verbrechen verloren haben, denn dieses quälende Schuldgefühl ist immer noch leichter zu ertragen als die Einsicht: Wir konnten nichts dagegen tun, wir sind solchen Schicksalsschlägen hilflos ausgeliefert – wir sind ohnmächtig.
Auch Wut oder tiefe Traurigkeit sind schwer auszuhalten. Doch sie sind zugleich produktiv. Wenn man bedroht oder schlecht behandelt wurde, setzen Aggressionen die nötige Energie frei, um sich zu wehren und die missliche Situation zu ändern. Trauer wiederum ermöglicht es, den Schmerz zu verarbeiten. Man kann zwar den Schaden nicht mehr ungeschehen machen, aber man hat die Möglichkeit, zu akzeptieren, was einem widerfahren ist, indem man trauert.
Doch was, wenn man nicht weiß, was geschehen ist? Man kann nichts an der Situation ändern. Man weiß nicht, auf wen man wütend sein soll. Man kann nicht trauern. Hier geben die Schuldgefühle einem Menschen wenigstens einen Hauch des Gefühls, Kontrolle über sein Leben zu haben, sei es auch nur, indem er sich verzweifelt ausmalt, wie er das Furchtbare hätte verhindern können. Vermeintlich geben sie sogar Sicherheit: Wenn wir uns in Zukunft anders verhalten, können wir solche Schicksalsschläge verhindern. Für Hilals Eltern endet sie nicht, die Ohnmacht.
Und schon bald begegnet uns in diesem Fall ihr Gegenstück: die Macht.
Im Juni 1999 sitze ich im Polizeipräsidium einem Mann gegenüber, bei dem sich mir aufdrängt, dass er das Spiel mit der Macht liebt. Der Mann hat eine Glatze. Er schluchzt zwischendurch und in seinen Augen glänzen Tränen. Ich reiche ihm Taschentücher, doch nehme ich ihm weder Reue noch Mitgefühl ab.
Die Ermittler der Abteilung für Sexualdelikte kamen auf seine Spur, weil ein Zeuge das Autokennzeichen des Mannes notiert hatte. Der Mann hat ein anderes kleines Mädchen namens Katharina entführt und sexuell missbraucht. Er parkte seinen Wagen vor einem Schwimmbad direkt am Gehweg, lauerte dort, und als das Mädchen vom Schwimmen kam, öffnete er die Beifahrertür, so dass sie nicht am Auto vorbeikam. Er drohte dem Kind mit einer Schere und zog es hinein. Dann fuhr er über die Autobahn aufs Land. Dort bog er in ein Waldstück ab, missbrauchte das Mädchen, fuhr weiter und setzte es mit einer Wäscheleine gefesselt in einem anderen Waldstück aus, wo es von einem Bauern gefunden wurde.
Nachdem der Mann festgenommen wurde, bat er um ein Gespräch mit einer Psychologin. Also sitze ich hier. Seine Tränen fließen wahrscheinlich eher aus Selbstmitleid. Er will sich wohl nicht offenbaren. Er will Trost. Er spricht davon, dass er sich bessern wolle, von Therapie, dass er seine Freundin heiraten wolle, ein Täter-Opfer-Gespräch führen, ein Praktikum im Altenheim machen und außerdem Organspender werden. Es scheint deutlich: Diesen Mann berührt das Schicksal seines Opfers in Wahrheit nicht. Er spricht nicht über seine Tat, er erzählt nichts von dem, was er dem Kind angetan hat. Er schluchzt, nimmt sich ein Tempo, schwört und redet. Aber kein Wort über das Leid des Kindes.
Bei all dieser vorgetragenen Reue scheint er permanent zu lügen. Den Vernehmungsbeamten hat er gesagt, er hätte einen »plötzlichen unkontrollierten Samenerguss« gehabt. Und auch jetzt erzählt er mir davon, dass er gar nicht wisse, was über ihn gekommen sei. Gegenüber seinem Gutachter behauptet er, dass er bei seiner Tat nicht erregt gewesen sei. Der Mann wird bei kritischen Fragen schnell unruhig. Er ist in seinem Umfeld bekannt dafür, große Reden zu schwingen, mit Erfolgen zu prahlen, die er gar nicht errungen hat. Er gilt als aufbrausend und aggressiv, insbesondere, wenn er Kritik ausgesetzt wird.
Ich vermute eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung. Narzissten versuchen ein tiefsitzendes Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen, indem sie ein grandioses Selbstbild entwickeln. Sich selbst für den Größten zu halten ist ein Abwehrmechanismus gegen die tiefsitzende Angst, nichts wert zu sein. Dieses übersteigerte Idealbild wollen sie von ihrer Umwelt gespiegelt bekommen. Manche motiviert das zu Höchstleistungen, aber viele auch zur Hochstapelei. Sie wollen gefallen, dürsten nach Bestätigung,
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