Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
manipulieren andere, wickeln sie um den Finger, erzählen Lügengeschichten, um Anerkennung zu bekommen. Und sie genießen es, Macht über andere zu haben, denn das zeigt ihnen, wie groß sie sind.
Der Geständige scheint zudem ausgeprägte dissoziale Persönlichkeitsanteile zu haben. Dieser Mann ist das, was man umgangssprachlich einen »eiskalten Psychopathen« nennt, er ist reizbar und aggressiv, Gesetze und Normen interessieren ihn allem Anschein nach nicht, und er kann vermutlich weder Mitgefühl empfinden noch Verantwortung übernehmen.
Jetzt sagt der Mann: »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.« Spaltet er seine Handlungen von seiner sonstigen Persönlichkeit ab? Es hatte alles nichts mit ihm zu tun. Außerdem sei das Opfer ja auch selbst schuld: »Sie hätte doch nur die andere Straßenseite benutzen müssen.« Er bagatellisiert: »Ich habe ja keinen Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt.« Er rationalisiert seine Tat: »Da saß sie halt nun in meinem Auto. Was soll man denn jetzt anderes tun als wegzufahren?«
Die Kollegen von der Kripo wollen nun von mir wissen, wie hoch ich die Wahrscheinlichkeit erachte, dass dieser Mann bereits vorher ein Sexualdelikt begangen hat. Nicht gering, schreibe ich in meinen Bericht. Dass er jetzt geständig ist, bedeutet nicht, dass er ein Verbrechen vorher nicht hätte verheimlichen können. Denn er gesteht offenbar nur, weil er weiß, dass es zu viele Beweise gibt. Der Ablauf der Tat, das raffinierte Parken, das Auflauern, die Schere und das Verschleppen sprechen zudem für einen hohen Professionalisierungsgrad. Auch dass er drei verschiedene, weit auseinanderliegende Orte gewählt hat, bestätigt das: vom Entführungsort zum Missbrauchsort und schließlich zu einem dritten Platz, wo er das Kind aussetzt. Der Täter hat dieses Verbrechen länger geplant, zumindest intensiv in Gedanken durchgespielt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er möglicherweise bereits reale Erfahrungen mit dieser Vorgehensweise bei einer anderen Tat gemacht hat. Dieser Mann mit der Glatze.
Ein Mann, der aussieht wie Kojak? Der ein hübsches langhaariges Mädchen im Alter kurz vor der Pubertät entführt? Die Vorgehensweise? Vor einem Schwimmbad ins Auto gezerrt. Natürlich: Hilal.
Auch die Ermittler hatten sofort den Verdacht. Sie stellten eine Anfrage beim Bundeskriminalamt. Das Ergebnis lautet: Es sind in den vergangenen fünf Jahren in Norddeutschland nur zwei Fälle bekannt geworden, in denen der Täter nach diesem Modus Operandi, diesem Handlungsmuster vorging. Erstens: der Fall, wegen dem dieser Mann verhaftet wurde. Und zweitens: vielleicht bei Hilal.
Der Mann hat sich bei der Vernehmung noch weiter verdächtig gemacht. Er behauptete, er habe nie etwas von Hilals Verschwinden gehört, dabei schreiben die Zeitungen nahezu täglich darüber. Er sagte ungefragt, dass er den Stadtteil Lurup übrigens gar nicht kenne. Woher wusste er, dass es in Lurup passiert ist, wenn er angeblich von Hilal nie etwas gehört hat? Und dann ließ er noch eine Bemerkung fallen: »Es ist sicher schwierig für die Polizei, ein Verbrechen aufzuklären, wenn man die Leiche nicht findet.«
Dieser Satz passt zur Persönlichkeit eines Narzissten. Ein Narzisst würde es genießen, von oben herab auf die missliche Lage der Polizei anzuspielen. Das gibt ihm das Gefühl von Größe und Macht. Und wie groß ist die Macht erst, wenn man als Einziger über ein Wissen verfügt, das alle anderen auch wollen. Etwa davon, was mit Hilal passiert ist? Wo sie liegt?
Weiß dieser Mann es? Es könnte sein. Es ist nicht mal unwahrscheinlich. Aber können wir es beweisen?
Je länger ich die Akten anschaue, desto mehr Indizien zeigen sich. Der Mann leidet chronisch unter Asthma, einer Organkrankheit mit sogenannter psychosozialer Komponente. Psychosomatische Probleme sind nicht selten bei Sexualstraftätern. Diese Männer stehen aufgrund ihrer Persönlichkeit unter starkem inneren Druck, der zu solchen Beschwerden führen kann. Es ist auch dieser Druck, der sie ihre Taten begehen lässt. Sie wollen ihn dadurch abbauen. Und so kommt es zu dem Phänomen, dass in der Zeit vor einer Tat viele Täter besonders stark unter psychosomatischen Beschwerden leiden, denn auch sie sind eine Folge der gestiegenen Anspannung. Und in unserem Fall? Zeugen aus dem Umfeld des Mannes sagten, dass er zum Zeitpunkt der Entführung von Katharina häufiger über Asthma klagte. Und wir wissen, dass auch zwei Monate zuvor, am Tag, an dem Hilal
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