Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
gehen die Strecke ab, die sie angegeben hat, erst der Besuch bei der einen Freundin, dann der bei der anderen. Die Freundinnen haben ihre Angaben bestätigt, aber nun wird klar: So, wie ihn die 54-Jährige geschildert hat, kann der Tag niemals abgelaufen sein, sie hätte es zeitlich nicht zu beiden Freundinnen geschafft. Warum hat die Großmutter gelogen?
Wir finden neue Anhaltspunkte. Die Familien der Eltern kommen aus verschiedenen türkischen Städten und haben kein gutes Verhältnis zueinander. Die Großmutter hat ihre Familie in Izmir finanziell unterstützt. In der Zeit vor Hilals Verschwinden stellte sie die Zahlungen plötzlich ein. Weil sie das Geld brauchte, um Hilal in die Türkei zu bringen? Wollte sie sicherstellen, dass die Enkelin im Falle einer Trennung bei der Familie der Mutter bleibt? Oder wurde sie erpresst? Wurde Hilal entführt, weil die Großmutter nicht mehr zahlte?
Ein weiterer Zeuge meldet sich. Er habe Hilal am Tag ihres Verschwindens mit einer älteren Frau in einem Bus gesehen. Die Großmutter schweigt dazu. Sie lügt weiter. Sie streitet Kontakte zu Leuten in der Türkei ab, von denen erwiesen ist, dass sie regelmäßig mit ihnen telefoniert. Liegt die Antwort in der Türkei?
Der Chef der BAO , Reinhard Chedor, reist mit einigen Kollegen in die Türkei und bittet um Unterstützung. Am 7. Mai werden zeitgleich in der Türkei und in Hamburg mehrere Wohnungen durchsucht. Hilals Großmutter wird ohne Vorwarnung ins Polizeipräsidium gebracht und vernommen. In den Wohnungen wird nichts gefunden, leider auch nicht die lebende Hilal. Aber im Präsidium finden wir etwas: eine Erklärung für die Lügen.
Bei Ermittlungen in Familien treffen wir nicht selten auf Schweigen, Verschweigen und die Unwahrheit. Jeder in einer Familie hat ein Geheimnis, das er vor den anderen verbergen will. Das kann uns in schwierige Situationen bringen. Die Menschen selbst glauben, dass ihr Geheimnis uns ohnehin nicht weiterhelfen würde. Sie belügen uns oder schweigen, weil sie fürchten, dass auch die Angehörigen davon erfahren könnten. Etwa, dass das Alibi des Familienvaters in der Tatnacht in Wahrheit ein Besuch bei der Geliebten war. Dabei übersehen sie jedoch, dass ihre Lügen sie verdächtig machen. Nun, da sie merkt, welches Chaos ihre Lüge ausgelöst hat, offenbart sich uns Hilals Großmutter unter Tränen: An jenem Nachmittag, als Hilal verschwand, traf sie heimlich ihren Exmann, obwohl die ganze Familie den Kontakt abgebrochen hat. Niemand durfte davon erfahren. Eine Lüge, die uns viel Zeit und Aufwand gekostet hat.
Wieder am Nullpunkt. Am wahrscheinlichsten bleibt eine Hypothese: Hilal wurde das Opfer eines Sexualstraftäters, der sie aufgegriffen und verschleppt hat.
Was die E.s spüren, als sie von der Entlastung der Großmutter hören, ist nur teilweise Erleichterung: Es war zwar keine von ihnen, die für Hilals Verschwinden Verantwortung trägt, aber die Hoffnung, wir könnten sie lebend in der Türkei finden, hat sich damit auch zerschlagen. Hilals Vater sagt dennoch später, dass die Ermittlungen in seiner Familie auch etwas Beruhigendes hatten: »Es geschieht etwas, die Polizei macht etwas!« Die Fragen im Kopf der Angehörigen hören nicht auf.
Lebt Hilal noch? Hat unser kleines Mädchen Schmerzen? Hat sie Angst? Sucht sie Trost? Hat sie Hoffnung? Ruft sie nach Mama und Papa? Ist sie enttäuscht, weil niemand kommt und sie beschützt? Ist sie verzweifelt? Oder ist sie schon tot? Musste sie leiden?
Keine Antworten.
Weitere Fragen. Wer war es? Was hat ER getan? Wie konnte er sie überwältigen? Hält er sie gefangen? In einem Kellerloch? Quält er sie? Missbraucht er sie? Warum macht er so etwas? Vielleicht hält er sie fest, weil er selbst gerne eine Tochter hätte und behandelt sie sogar gut? Oder hat er sie bereits getötet, vielleicht weil sie sich gewehrt hat?
Keine Antworten.
Und schließlich andere Fragen. Warum haben WIR , die Familie, es nicht verhindert? Was hätten wir tun können? Was wäre geschehen, wenn ich als Vater ihr nicht die Mark gegeben hätte? Wenn ich mitgegangen wäre? Was, wenn ich als Mutter zu Hause gewesen wäre? Verhindert hätte, dass Hilal allein auf die Straße geht? Was wäre wenn?
Jeder Unbeteiligte würde entschieden sagen: »Nichts hättet ihr tun können. Ihr könnt euer Kind doch nicht einsperren.« Diese Fragen erscheinen uns Außenstehenden sinnlos. Doch auf sie kann man wenigstens Antworten finden. Sie lauten: Wir sind schuld! Aber auch: Dann
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