Warum so scheu, MyLady
lächelte zynisch. “Widerstrebt es dir, mich zu begleiten? Keine Bange. Sobald wir eine angemessene Zeit miteinander verbracht haben, darfst du deiner Wege gehen.”
“Das meine ich nicht”, erwiderte sie ärgerlich und gekränkt. Wollte er sie so schnell loswerden? “Bevor du abreisen kannst, musst du dich erholen und neue Kräfte sammeln.”
“Oh, ich bin schon in schlimmerer Verfassung über holprige Landstraßen gefahren. Kommst du mit mir?”
“Selbstverständlich.”
“Selbstverständlich …”, wiederholte er gedehnt. “Du hast ja gelobt, mir stets zu gehorchen. Und nun glaubst du wohl, du hättest keine Wahl.”
“So ist es”, bestätigte sie kühl. “Trotzdem solltest du warten, bevor du dir eine längere Fahrt zumutest. Dr. Hampton meint, du müsstest noch ein paar Tage im Bett bleiben.”
“Aber ich ziehe mein eigenes Bett vor. Hier fühle ich mich nicht besonders wohl.”
Mühsam schluckte sie. Dass er einem Haus entfliehen wollte, in dem ihn bittere Erinnerungen verfolgten, konnte sie ihm nicht verübeln. “Also gut. Hast du noch einen Wunsch?”
“O ja.” Sein Blick glitt zu ihrem Mund. “Würdest du mich küssen?”
“Was?” Beinahe wäre sie zurückgewichen.
“Ich hätte gern einen Kuss von dir. Ist das so ungewöhnlich? Immerhin haben wir heute geheiratet.”
“Aber du sagtest …” Dunkle Röte färbte ihre Wangen.
“Beruhige dich, ich werde nicht darauf bestehen, die Ehe zu vollziehen. Du sollst mich nur küssen.”
Vielleicht befand er sich im Delirium. Der eigenartige Glanz in seinen Augen wies darauf hin. Nun, einen schlichten Kuss müsste sie eigentlich zu Stande bringen. Sie neigte sich hinab, und ihre Lippen streiften seine raue, warme Wange. Zu ihrer Verblüffung hörte sie, wie er den Atem anhielt. Von einem leichten Schwindelgefühl erfasst, richtete sie sich hastig auf. “Jetzt … sollte ich gehen.”
“Ja, das würde ich dir auch empfehlen.” Seine Stimme klang heiser und belegt.
Halb benommen taumelte sie aus dem Zimmer und schloss die Tür. Im Flur lehnte sie sich an die Wand. Sie zitterte am ganzen Körper. Bevor sie irgendjemandem begegnete, musste sie warten, bis sich ihre rasenden Herzschläge verlangsamten.
Da ihr Ehemann eine so beängstigende Wirkung auf sie ausübte, musste sie ihm recht geben – es wäre tatsächlich besser, wenn sie getrennt lebten.
7. KAPITEL
S orgsam umwickelte Sarah das kleine Porträt ihrer Mutter mit einem sauberen Taschentuch und legte es zu den gebündelten Briefen in ihren kleinen Koffer, den sie auf die Reise mitnehmen wollte, zusammen mit einer Kleidertruhe. Die restlichen Sachen würde Amelia später nach Ravensheed schicken.
Sarah setzte sich aufs Bett und sah sich um. Nun waren alle ihre persönlichen Sachen verschwunden, ihre Fächer und Handschuhe, die blau-weiße kleine Vase – ein Geschenk ihrer Mutter –, ihre Lieblingssteppdecke und die Aquarelle, die sie gemalt hatte. Wie öde und leer der Raum jetzt wirkte … In einer knappen Stunde würde sie in die Kutsche steigen und ihr Heim verlassen.
“Sarah?” Zögernd stand Jessica auf der Schwelle.
“Komm doch herein!”, bat Sarah und erhob sich.
Jessica folgte der Aufforderung. Langsam wanderte ihr Blick durch das Zimmer. “Es fällt dir sicher schwer, von hier fortzugehen. So werde ich mich auch fühlen, wenn ich aus Ravensheed ausziehen muss. Aber ich freue mich natürlich auf mein Eheleben mit Adam. Seltsam, nicht wahr? Ich werde in die Nähe deines Zuhauses ziehen, und du wirst in meinem wohnen.”
“Ja, ich weiß …” Sarah verspürte schon jetzt Heimweh. “Wirst du bald nach Ravensheed zurückkehren?” Vielleicht würde sie sich in der Gesellschaft ihrer liebenswerten Schwägerin etwas schneller an die neue Umgebung gewöhnen.
“Das hoffe ich”, seufzte Jessica. “Meine Tante hat erklärt, ich müsse mindestens vierzehn Tage bei ihr verbringen. Aber ich will möglichst bald die Flucht ergreifen.” Mitfühlend betrachtete sie Sarahs kummervolle Miene. “Glaub mir, du musst dich nicht vor meinem Bruder fürchten. Er ist nicht so schrecklich, wie ihn die Leute darstellen oder wie er sich selber gern präsentiert.”
“Jedenfalls hat er sich sehr … ehrenwert verhalten.”
“Davon bin ich überzeugt.” Plötzlich kicherte Jessica. “Erlaub ihm bloß nicht, Abstand von dir zu halten. Das wird er nämlich versuchen.”
Nervös schlang Sarah ihre Finger ineinander. “Oh, er tut’s schon jetzt.”
“Versprich mir,
Weitere Kostenlose Bücher