Warum so scheu, MyLady
einquartieren würde, kein besonders respektables Haus. Aber Crump, der Wirt, war ihm einen Gefallen schuldig.
Natürlich musste er erst einmal an Lady Huntington herankommen. Nach dem Zwischenfall am Vortag würde ihr Mann sie zweifellos nicht aus dem Haus lassen, bis er, Cedric, aus dieser Gegend verschwunden war. In die Polsterung zurückgelehnt, starrte er gedankenverloren auf die Straße. Und dann entdeckte er drei Frauen, die vor seiner Kutsche dahinschlenderten. Caroline Kenton und Lady Jessica erkannte er sofort. Die andere war zweifellos ein Dienstmädchen.
Nun wusste er, was er tun musste. Er brauchte Lady Huntington nicht mehr, denn ihr Ehemann konnte auch auf andere Weise vernichtet werden. Sobald er an den Frauen vorbeigefahren war, befahl er seinem Kutscher anzuhalten. Lächelnd stieg er aus dem Wagen. “Guten Tag, Lady Jessica, Miss Kenton.”
Sarah betrachtete ihr Aquarell – das erste, das sie seit der Verletzung ihres Handgelenks malte. Als Vorlage benutzte sie eine Skizze von Merlin. Die hatte sie schon vor ein paar Tagen angefertigt. Keines dieser Werke gefiel ihr. Aber sie lenkte sich wenigstens von den Ereignissen des vergangenen Tages ab.
Nicholas und Devon waren nach Ravensheed zurückgekehrt, nachdem sie vergeblich nach Blanton gesucht hatten. Wie Mr. Branley berichtete, hatte er ihm geholfen, die Jagdbeute zu bergen, ihn dann aus den Augen verloren und sich im Wald verirrt. Eine Stunde später war er in Harrowood eingetroffen.
Gestern Abend hatte ihr Devon erneut verboten, das Haus zu verlassen, ehe sie Blanton aufgespürt hatten. Nicht einmal in Begleitung durfte sie sich hinauswagen. Sie seufzte irritiert. Womöglich musste sie mehrere Tage in diesen vier Wänden verbringen.
Amelia blickte von ihrem Buch auf. “Sicher leidest du unter deiner Gefangenschaft. Willst du nicht für eine Weile zu mir ziehen? Darüber habe ich schon mit Devon gesprochen, und er meint, bei John und mir wärst du besser aufgehoben, solange Blanton eine Gefahr darstellt.”
“Das ist sehr freundlich von dir”, erwiderte Sarah automatisch. Der schreckliche Zwischenfall überschattete das Glück jener Liebesnacht. Jetzt verhielt sich ihr Mann wieder so kühl und unnahbar wie zuvor – als hätte er sie niemals leidenschaftlich umarmt.
“Wenn du willst, können wir schon morgen aufbrechen. Nicholas wird uns begleiten.”
“Wie nett …”, flüsterte Sarah, den Tränen nahe.
Verblüfft wandten sich beide zur Tür der Bibliothek, die plötzlich aufflog. Caroline stürmte herein, das Haar zerzaust, die Augen voller Angst.
Sarah sprang erschrocken auf. “Was ist denn los?”
“O Gott, er hat sie entführt! Und ich bin schuld daran! Niemals hätte ich gedacht …” Aufgeregt rang Caroline nach Atem.
“Wer?”, fragte Sarah, von einer bösen Ahnung erfasst. “Wo ist Jessica?”
“Mr. Blanton – er hat sie einfach gepackt …”, kreischte Caroline hysterisch.
“Bitte, nehmen Sie sich zusammen!”, flehte Sarah und ergriff den Arm des verzweifelten Mädchens. “Was ist geschehen?”
Mühsam unterdrückte Caroline ein Schluchzen. “Wir … wir wanderten die Straße hinab. Da hielt seine Kutsche, und er fragte, ob wir mit ihm ausfahren wollten. Das lehnten wir ab, und da zerrte er Jessica in den Wagen. Ich versuchte ihn zurückzuhalten. Aber er stieß mich beiseite, und sie fuhren davon. Meine Zofe Betsy schrie wie am Spieß und hörte nicht auf. Schließlich ließ ich sie stehen. Heute ist Charles nicht daheim, und so lief ich hierher.
Sarah starrte Amelia an. “Um Himmels willen! Devon und Adam sind auch nicht da … Am besten wende ich mich an Nicholas.”
“Soll ich dich begleiten?”, erbot sich Amelia, die leichenblass geworden war.
“Nein, jemand muss hier auf Devon und Adam warten.” Sarah rannte zur Tür, wo sie beinahe mit ihrem Bruder zusammenstieß.
“Großer Gott, was ist denn passiert?”, rief er.
“Blanton hat Jessica entführt!”, erklärte sie und umklammerte seinen Arm. “Das hat Caroline uns soeben erzählt. Und Devon ist nicht da. Gerade wollte ich zu dir … Du musst uns helfen!”
“Beruhige dich und fang noch einmal von vorn an.” Nachdem Sarah, Caroline und Amelia die Ereignisse zu dritt geschildert hatten, nickte er grimmig. “Ich fahre sofort hinterher. Wenn mich nicht alles täuscht, weiß ich, wohin Blanton gefahren ist.”
“Nimm mich mit, Nicholas!”, bat Sarah.
Zögernd stimmte er zu. “Also gut … Bist du bereit?”
“Ja, ich hole nur
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