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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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funktionierenden Beziehung auch die Bereitschaft zum Konflikt, das Aushalten einer Verweigerungshaltung beim anderen gehört. Diese psychischen Funktionen werden in einem Projektionsverhältnis nicht mehr gebildet, trotzdem erkennt das Kind im Erwachsenen noch »das Andere«, das sich im nicht-gegenständlichen Bereich befindet. Falsche Verhaltensweisen von Kindern werden von Eltern auf der Partnerschaftsebene besprochen, ausführlich diskutiert und analysiert und in der Projektion noch wahrgenommen. In beiden Fällen werden sie jedoch nicht mehr entsprechend gespiegelt und korrigiert.
    Auf der dritten Ebene der Beziehungsstörungen, die ich Symbiose nenne, fällt endgültig die Wahrnehmung des Kindes als Kind weg. Es kommt zur Verschmelzung der elterlichen Psyche mit der kindlichen und damit zu einer Fixierung des Kindes in einer noch früheren psychischen Entwicklungsphase.
Folgendes Fallbeispiel zeigt recht eindrucksvoll, welche Auswirkungen auf das Zusammenleben von Eltern und Kindern die symbiotische Beziehungsstörung haben kann:
    Der achtjährige Max wird mir durch seine Mutter vorgestellt. Er sei von Anfang an Sorgenkind. Bereits mit zwölf Monaten sei er verhaltensauffällig gewesen, habe die Eltern gebissen und gekratzt, manches Mal sogar blutig. Diese Verhaltensweise sei mit zwei Jahren extremer geworden. Ab diesem Alter hätten sich die Eltern zum Teil gewehrt, jedoch habe das zu keiner Veränderung geführt.
    Im Kindergarten wurde er als aggressiv erlebt. Max habe dort aber auch nicht hingehen wollen und über vier Jahre jeden Tag deshalb geschrien. Die Erzieher hätten zum damaligen Zeitpunkt gemeint, das Kind schreie nach Hilfe, jedoch sei er in der aufgesuchten Erziehungsberatungsstelle als unauffällig eingestuft worden.
    Seit der zweiten Schulklasse habe er große Probleme. Er mache keine Hausaufgaben, sitze zum Teil über drei Stunden vor den Büchern. Er höre nicht. Die Eltern erleben sich selbst als konsequent und streng, sie könnten jedoch bei ihm nichts ausrichten. Auch das Zimmeraufräumen sei ein Drama. Die Spirale drehe sich dann häufig so hoch, dass sie ihn manchmal auf den Po schlagen. Auch dies würde jedoch nichts ändern. Grundsätzlich akzeptiere Max keine Grenzen und suche permanent die Auseinandersetzung. Er habe jetzt Schwierigkeiten im Schreiben, verdrehe die Buchstaben. Die Lehrerin vermute eine Legasthenie.
    Für Kinder hat die Verschmelzung der Psychen zur Folge, dass sie ein menschliches Gegenüber nicht mehr als solches erkennen können, sondern in eine gegenständliche Reaktionsweise verfallen, für die ich in Analogie zur Steuerung von Körperprozessen eine begriffliche Umschreibung entwickelt
habe. Bildlich gesprochen fehlt diesen Kindern die »Nervenzelle Mensch«, es gibt bei ihnen lediglich eine »Nervenzelle Gegenstand«. Doch was heißt das genau?

Die Nervenzelle Mensch
    Mit dem Bild der Nervenzelle Mensch lässt sich das Problem des Verhältnisses von Kindern zu ihrer Umwelt so beschreiben, dass man trotz der Unsichtbarkeit von Psyche eine Vorstellung davon bekommt, welchen Eindruck Äußerlichkeiten in den Tiefen des Kopfes hinterlassen. Kinder lernen bereits früh, dass sich um sie herum zahlreiche Gegenstände befinden, und sie realisieren auch die Leblosigkeit der Gegenstände. Ein Stuhl etwa, der dem krabbelnden und bald auch laufenden Kind im Weg steht, kann zur Seite geschoben werden, um sich den Weg frei zu machen. Gegenstände wie der Stuhl halten auch einen etwas ruppigen Umgang mit ihnen aus, ohne dass sie eine Reaktion zeigen würden. Diese Tatsachen lernt jedes Kind früh auf natürliche Weise, es bildet sich - bildlich gesprochen - eine »Nervenzelle Gegenstand«, die durch das angesprochene ständige Training immer weitere Erfahrungen macht, die die Dinglichkeit der Umgebung manifestieren.
    Andere Menschen, die sich häufig um das Kind herum befinden, also zuerst die Eltern, dann Großeltern, Erzieher, Lehrer, Freunde und Bekannte der Eltern, werden vom Kind zunächst einmal ebenfalls über die Nervenzelle Gegenstand definiert. Einen Unterschied zwischen dem Stuhl und einem Menschen, der auf diesem sitzt, gibt es bis auf weiteres nicht.
    Das ändert sich erst in dem Moment, in dem die Menschen in der Umgebung sich dem Kind gegenüber als abgegrenzt
präsentieren, ihm Widerstand entgegensetzen, wenn es sich in seinem

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