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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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der Regel zunächst einmal mit den eigenen Eltern. Auch hier wird versucht, zu schieben, zu klettern oder zu lecken. Die normale Reaktion eines Erwachsenen wäre, auf diese Versuche des Kindes abgegrenzt zu reagieren, er würde sich also in der Regel nicht beißen, beklettern oder etwa kneifen lassen. Das kindliche Verhalten wird in diesem Moment dezidiert als Fremdimpuls verarbeitet, also als ein von außen kommender Reiz, der den elterlichen Körper in einer unangemessenen Weise beeinträchtigt.
    Die Entscheidung, ob das Kind in einer Gesprächssituation unter Erwachsenen auf dem Schoß sitzen darf, würden Eltern normalerweise autark treffen, also nach Beurteilung der Situation, etwa Inhalt und Wichtigkeit des Gesprächs, das Sitzen zulassen oder aber das Kind auf liebevolle Art und Weise vom Schoß weg halten. Das Kind würde auf diese Weise erleben, dass der Mensch nicht in die Kategorie »steuerbarer Gegenstand« fällt, sondern, im Gegenteil, das Kind steuert. Es kommt also, wie bereits beschrieben, zur Ausbildung der »Nervenzelle Mensch«.
    Eltern, die sich in einem symbiotischen Verhältnis zu ihrem Kind befinden, geben diesem keine Chance, die Herausbildung dieser Nervenzelle in Angriff zu nehmen, sondern lassen sich ganz selbstverständlich von ihnen als Gegenstand benutzen, da das Kind von ihnen als Eigenimpuls verarbeitet wird. Wie eingangs erläutert, ist für die Verarbeitung als Eigenimpuls charakteristisch, dass der entsprechende Reiz
nicht auffällt, unwichtig ist und somit keinerlei Aufmerksamkeit erzeugt. Für die Beziehung zwischen Eltern und Kind also die denkbar schlechteste Situation.
    Das führt beispielsweise zu absurd anmutenden Gesprächen mit Eltern in meiner Praxis. Diese bringen ihr Kind zum Beratungsgespräch mit, und es passiert Folgendes: Das Kind klettert während der Zeit, in der ich mich mit den Eltern unterhalte, auf ihnen rum, mal rauf, mal runter, zerrt an ihnen und zieht ihnen dabei manchmal fast die Kleidung vom Leibe. Darauf angesprochen, reagieren die meisten Eltern mit Erstaunen und der klaren Aussage, es störe sie nicht, wenn das Kind das mache. Sie verarbeiten in diesem Moment das Kind als Eigenimpuls, klettern also im weitesten Sinne selbst auf sich rauf und runter und empfinden es daher nicht als unangemessen.
    Eine weitere symptomatische Situation ist beispielsweise, dass Kleinkinder der Mutter während eines Gespräches die neben dem Stuhl liegende Handtasche ausräumen. Diese reagiert darauf erst nach deutlichem Hinweis meinerseits, allerdings nicht in der zu erwartenden Art und Weise. Statt die Tasche hochzustellen, damit sie für das Kind unerreichbar wird, räumt sie ihre Sachen wieder ein und stellt die Tasche dann wieder auf den Boden, so dass das Kind von vorne beginnen kann. Auf dem Boden der Symbiose kann die Mutter nicht mehr erkennen, dass ihr Kind etwas Falsches tut. Dafür müsste sie abgegrenzt vom Kind sein, durch die Psychenverschmelzung ist sie jedoch eins mit ihm und begreift das Verhalten des Kindes als ihr eigenes, nicht korrekturwürdiges Verhalten.

Das Kind macht nichts »extra«
    Bleiben wir noch einen Moment beim Beispiel des Arms. Eine beliebte Reaktion von Eltern, wenn man versucht, sie auf ein Fehlverhalten ihres Kindes hinzuweisen, liegt in der Aussage »Das hat es aber nicht absichtlich (extra) gemacht«. Lege ich meine Hand an eine bestimmte Stelle, weil ich durch die entsprechenden neurologischen Prozesse meinen Arm dazu »aufgefordert« habe, so ist das eine kontrollierbare Situation: Ich kann sicher sein, wo die Hand landen wird. Nehmen wir für einen Moment an, die Hand liege an einer ganz anderen Stelle als von mir beabsichtigt und jemand anderes würde mich darauf aufmerksam machen. Ich würde automatisch versuchen, dieses Fehlverhalten des Arms und der Hand zu negieren. Die Begründung dafür würde lauten, der Arm habe das nicht absichtlich gemacht, das könne er ja schließlich gar nicht, da er eine Verlängerung von mir ist und als solche keinerlei Autonomie besitzt.
    Ãœbertragen auf die Praxissituation, wie sie sich mir häufig darstellt, bedeutet das: Ein frühkindlich narzisstisch fixiertes Kind, dem ich den Auftrag erteile, sich auf einen bestimmten Stuhl zu setzen, wird das in etwa einem Drittel der Fälle nicht tun und mich dazu zwingen, den Auftrag mindestens einmal zu wiederholen. Beschreibe ich den Eltern

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