Warum unsere Kinder Tyrannen werden
mit den eigenen Eltern in eine absurde Konkurrenzsituation zu treten. Für die Kinder wiederum macht es diese Situation noch einfacher, ihre Steuerungsfunktion gegenüber den Erwachsenen auszuüben, denn nun können sie Eltern und GroÃeltern gegeneinander ausspielen und sich dabei sicher sein, dass diese das auch noch ganz toll finden. Denn je mehr sie sich vom Kind anstacheln lassen, vermeintliche Liebesbekundungen in welcher Form auch immer von sich zu geben, umso mehr fühlen sie sich selbst vom Kind geliebt und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt.
Ein Fallbeispiel: Sven und der Chemiebaukasten
Sven (10 Jahre) sitzt vor seinem Chemiebaukasten. Um ihn herum sind die Utensilien verteilt, er hat den gesamten Esstisch und vier der sechs Stühle beschlagnahmt. Auf einem Stuhl sitzt er, auf einem stehen seine Colaflasche und sein Glas, die beiden anderen hat er mit Reagenzgläsern, Teststreifen, etc. zugestellt.
Die Mutter hat Sven bereits vor 15 Minuten darauf aufmerksam gemacht, dass sie den Tisch für das Abendessen decken möchte. Sven hat nicht darauf reagiert.
Sie steht nun wieder vor dem Esstisch und sagt: »Sven, kannst du jetzt bitte deine Sachen wegräumen, ich möchte den Tisch decken. Es ist bereits 19.15 Uhr und du musst noch duschen.«
Sven reagiert ungehalten: »Gleich. Siehst du nicht, dass ich gerade etwas teste. Ich kann nicht einfach unterbrechen,
weil du den Tisch decken willst.« Verständnisvolle Frage der Mutter: »Was für einen Test machst du denn da gerade?« - »Das verstehst du ja doch nicht«, murmelt Sven und wendet sich wieder seinem Mikroskop zu.
Svens Mutter geht daraufhin kommentarlos in die Küche und stellt alles auf der Anrichte bereit, was sie für das Abendessen benötigt. Ihre Freundin, die zu Besuch ist, findet Svens Verhalten unverschämt und fragt sie, warum sie sich ein solches Verhalten von einem Zehnjährigen bieten lässt. Svens Mutter versteht jedoch nicht, was ihre Freundin meint. Sie empfindet das Verhalten ihres Sohnes nicht als unangemessen, sondern ist stolz auf seine Intelligenz.
Kapitel 7
Dritte Beziehungsstörung: Symbiose - Wenn Eltern ihre Psyche mit der ihres Kindes verschmelzen
Der Anteil der Erwachsenen, die mit ihnen anvertrauten Kindern eine Beziehungsstörung in Form einer Projektion leben, ist nach meinen Beobachtungen in den letzten Jahren extrem gestiegen. Beginnend etwa Ende des letzten Jahrhunderts handelt es sich heute um die dominierende Beziehungsstörung sowohl auf der Eltern-Kind-Ebene als auch beim pädagogischen Personal. Seit etwa fünf Jahren erlebe ich, ausgehend von den vielen Projektionsverhältnissen, eine weitere Verschärfung der Lage.
Konnten wir früher die Entwicklung des Kindes von der Geburt bis ins Kindesalter problemlos entlang der psychischen Entwicklung beschreiben, so ist dies heute unmöglich geworden. Der Grund dafür liegt in einer immer früheren Entwicklungsfixierung des Kindes in sehr frühen psychischen Entwicklungsstadien. Die Kinder, die in rein partnerschaftlich orientierten Verhältnissen groà geworden sind, haben zwar bereits nicht mehr das Glück, intuitiv von Eltern, Erziehern und Lehrern durch die Kindheit geleitet worden zu sein, besitzen jedoch im Vergleich immer noch erheblich mehr psychische Substanz als diejenigen, bei denen bereits lupenreine Projektionsverhältnisse vorherrschend waren.
Wie beschrieben, kommt es im Rahmen der Projektion zu einer Machtumkehr, d. h. der Erwachsene begibt sich auf eine Ebene unter das Kind, wird bedürftig, und das Kind ist plötzlich für die Bedürfnisbefriedigung zuständig. Dieser emotionale Missbrauch des Kindes führt zu seiner narzisstischen Aufwertung und aus tiefenpsychologischer Sicht zu einem Verbleib auf der psychischen Entwicklungsstufe eines Kindes im Alter von 18-30 Lebensmonaten.
Bei aller Fatalität der Entwicklung auf den erläuterten beiden Stufen haben diese jedoch immer noch eines gemeinsam: Eltern und Kinder sind noch jeder für sich individuell, und die Kinder nehmen andere Menschen noch als Menschen wahr. Die psychische Phase, in der sie im Rahmen der Partnerschaft fixiert sind und die ihr Verhalten auch auf höheren Alterstufen steuert, ist die der Allmachtsphase. Das Kind erlebt sich als »am gröÃten«, »am besten«, »am schönsten«, usw. Es ist nicht in der Lage, zu begreifen, dass zu einer
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