Warum unsere Kinder Tyrannen werden
diese Situation, mache sie explizit darauf aufmerksam, dass das Kind mir keine andere Wahl gelassen hat, als mich von ihm steuern zu lassen und es erneut zu bitten, einen bestimmten Stuhl zu wählen, werden sie zu mir sagen »Das hat es aber nicht absichtlich gemacht«. Weise ich in so einem Fall darauf hin, dass eine so einfache und klare Anweisung kaum falsch zu verstehen sei, lautet das nächste Argument, das Kind habe Angst vor mir oder vor der Gesprächssituation. So würde das endlos weitergehen, immer neue fantasievolle Begründungen
würden den Eltern einfallen, warum bei ihrem Kind im Falle des falsch gewählten Stuhls kein Fehlverhalten vorliegt. Der Grund ist ganz einfach: Das Kind wird als Körperteil seiner Eltern begriffen, und Körperteile können ja nichts absichtlich machen. Marcel aus unserem Beispiel ist also psychisch gesehen Körperteil seiner Mutter, auch er hat ihrer Meinung nach die Kistentürme keinesfalls absichtlich erklommen.
Der Erwachsene reagiert auf Kontaktaufnahme des Kindes reflexartig - Wie aus der Symbiose Gewalt gegen Kinder entstehen kann
Ganz grundsätzlich hat ein erwachsener Mensch nach auÃen gerichtet zwei Reaktionsmuster: ein zwischenmenschliches und ein gegenständliches. Wenn mich jemand anspricht, entscheide ich, ob ich mich demjenigen zuwende und ihm zuhöre, ich bin also mit meinem »Ich« dazwischen. Wenn ich mich aber stoÃe, kommt es zu einer reflexartigen Reaktion, die ich nicht kognitiv beeinflussen kann. Es ist unmöglich, sich zu stoÃen und darüber nachzudenken, ob man reagieren will. Eltern in der Symbiose reagieren auf ihre Kinder im Sinne dieses Reflexes, also nicht bewusst und mit einer überlegten Handlungsweise.
Um die zwischenmenschliche Reaktion zu verstehen, kann man sich am besten folgende Situation vorstellen: Man läuft in der Stadt an einer belebten Stelle vorbei, an der sich unter anderem einige Personen aufhalten, die erkennbar auf »Stress« aus sind, also versuchen, Passanten zu beleidigen und zu provozieren. Normalerweise würde man in so einem Moment nach dem zwischenmenschlichen Reaktionsmuster handeln, nämlich der Provokation ausweichen, sich seinen Teil über den Provokateur
denken und versuchen weiterzugehen. Der Mensch, der sich so verhält, zeigt sich abgegrenzt gegenüber seiner - auf ihn aggressiv einwirkenden - Umwelt und zeigt sich in der Lage, die eigene Reaktion willentlich zu beeinflussen.
Anders verhält es sich bei der gegenständlichen Reaktion. Diese zeigt sich etwa, wenn ich mich stoÃe und dabei reflexartig den Arm zurückziehe. Ich kann darüber nicht frei entscheiden, sondern lasse mir von meinem Arm die Reaktion vorschreiben.
Was hat das mit dem Verhalten des Erwachsenen gegenüber dem Kind zu tun? Ganz einfach: Das Kind wird vom Erwachsenen in der Symbiose nach dem gegenständlichen Reaktionsmuster verarbeitet. Da der Erwachsene das Kind psychisch als eigenen Körperteil verarbeitet, reagiert er auf die Ansprache des Kindes unreflektiert und reflexartig.
Ich erlebe das beispielsweise in meiner Praxis in Situationen wie dieser: Eine Mutter verlässt nach dem Einzelgespräch das Behandlungszimmer und ist auf dem Weg zur Anmeldung, um einen neuen Termin zu machen. Ihr Kind, das drauÃen gewartet hat, bestürmt die Mutter in diesem Moment mit einem Bild, das es während der Wartezeit gemalt hat und fordert mit den Worten »Hab ich das nicht schön gemalt?« eine sofortige Reaktion der Mutter. Die in der Symbiose befindliche Mutter reagiert in solch einem Moment unmittelbar auf die Anforderung des Kindes, anstatt es zum Warten aufzufordern, bis sie ihren Gang zur Anmeldung vollendet hat. Nicht selten vergisst die Mutter scheinbar völlig, was sie gerade eben noch machen wollte, da ihre Aufmerksamkeit vollständig vom Kind aufgesogen wird.
Für das Kind ist diese Erfahrung fatal, weil es sich damit davon überzeugt hat, die Mutter in seinem Sinne steuern zu können. Bei älteren Kindern erlebe ich es häufig, dass diese eine ganze Weile auf die Eltern warten und genau in dem
Moment, in dem diese den Heimweg antreten wollen, darauf bestehen, zur Toilette gehen zu müssen. Sie hätten zwar die ganze Zeit vorher die Gelegenheit dazu gehabt, nutzen jedoch diesen Moment, um sich davon zu überzeugen, dass die Eltern immer noch so reagieren, wie das Kind es wünscht.
Auswirkungen auf die psychische
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